Literaturgeschichte 750-1500
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promissbereitschaft der Klosterinsassen nötig. Da der materielle Unterhalt des Klosters meist durch den weltlichen<br />
Schutzherrn gewährleistet wurde, kamen in klösterlicher Dichtung nicht unbedingt die Interessen des Herrschers<br />
zu kurz. Die Aufgabe, den Herrscherhof zu unterhalten, oblag aber den Spielleuten. Auch im Kloster war<br />
Unterhaltung, die nicht religiöser Natur war, zulässig: die Benediktinerregel stellt klar, dass für alles seine Zeit ist.<br />
Zeit für Arbeit, Zeit für Gebet, aber auch Zeit für Unterhaltung. Diese Unterhaltung durfte auch darin bestehen,<br />
dass man nach der Mahlzeit dem Vortrag eines Spielmanns lauschte, der ganz unchristliche Texte zum Besten gab.<br />
Diese Texte unterlagen auch keiner Wahrheitsprüfung. Da sie nur der Unterhaltung dienten und als fiktiv anerkannt<br />
wurden, durften sie sogar Aussagen enthalten, die in geistlicher Literatur als Ketzerei hätten verurteilt werden<br />
müssen. Gestrenge Äbte versuchten allerdings das ganze Mittelalter hindurch, dieses Recht so weit wie möglich<br />
zu beschränken und unchristliche unterhaltsame Darbietungen aus dem Kloster zu vertreiben – mit wechselndem<br />
Erfolg. Aber für die Entstehung und Aufzeichnung von rein weltlicher Unterhaltungsliteratur war das Kloster<br />
ein schlechter Ort. Am ehesten ging das noch, wenn man antike Stoffe wählte und z. B. an Vergil anknüpfte;<br />
Kampfschilderungen waren in Kreuzzugsepen leicht unterzubringen; Stoffe aus dem Umkreis von Karls des Großen<br />
Kreuzzug gegen die Araber in Spanien konnten weltliche und geistliche Auftraggeber gleichermaßen zufriedenstellen.<br />
Bis etwa 1150 ist in diesen schriftlichen Dichtungen aber immer der geistliche Blickwinkel deutlich.<br />
Nun wollen die Höfe auch die Stoffe, die nicht durch die Tradition in der klösterlichen Schreibstube geheiligt<br />
waren, in schriftlicher Form besitzen. Im französischen Kulturkreis waren das vor allem die phantasievollen, märchenartigen<br />
keltischen Wundergeschichten von Artus und anderen Helden. Die in der Klosterschule gebildeten<br />
Autoren bringen dafür auch in diese ihre Schulung ein – auch die ursprünglich von religiöser Problematik freie<br />
Heldensage wird stärker mit christlicher, auf die ewige Freude ausgerichteter Sinngebung durchdrungen. Die an<br />
den aufstrebenden französischen und englischen weltlichen Höfen orientierten Autoren, wie Chrestien (Artusromane)<br />
und Thomas (Tristanroman) oder der anonyme altfranzösische Aeneasroman taten das aber nur minimal;<br />
geistliche Abschreiber haben da fallweise durch Zusätze wie die Anrufung Gottes am Schluss des Werkes ‚korrigiert‘.<br />
Aufbau, Aussage und historische Einordnung<br />
Der Prolog ist so etwas wie eine kurze Poetik. Chrestien geht es nicht darum, ‚wie es gewesen ist‘, wie im Zeitalter<br />
des Historismus Leopold Ranke die Aufgabe der Geschichtsschreibung formulieren zu können glaubte, sondern<br />
hier geht es darum, eine Geschichte, die üblicherweise formlos („in Stücke gerissen“) erzählt wird, und formlos<br />
setzt Chrestien mit ‚hässlich‘ gleich, in einer schönen Form zu erzählen. Dann erst kann man ihren wahren Wert<br />
erkennen und schätzen. Das Wortspiel ‚Christian‘ mit ‚Christenheit‘ zeugt von einem gesunden Selbstbewusstsein.<br />
Nicht die anonyme Erzählung, sondern er, der geniale Dichter, hat das Verdienst. Und Dichten ist nicht das<br />
Erfinden einer Handlung, sondern das sie in die ihr gemäße Form Bringen. Das heißt für ihn aber trotzdem nicht,<br />
dass erst der gute Dichter die Erzählung schön macht; eine Erzählung kann an sich schön sein, aber man erkennt es<br />
nicht, wenn sie schlecht erzählt wird, sondern erst, wenn sie jemand in eine ansprechende Form bringt. Das soll uns<br />
der Prolog zum Erec lehren.<br />
Die verbalen Hiebe, die Chrestien austeilt, gelten den Spielleuten (jongleurs), die beim mündlichen Vortrag<br />
an Fürstenhöfen, vor Königen und Grafen, je nach Laune des Publikums und zur Verfügung stehender Zeit, Teile<br />
aus dem Zusammenhang einer Erzählung vortrugen. Dass ‚in Stücke reißen‘ und ‚kaputt machen‘ automatisch<br />
dasselbe sein soll, wie uns Chrestien einreden will, werden Freunde mündlich improvisierender Dichtung wohl<br />
nicht prinzipiell gelten lassen. Es ist Teil der Aufführungssituation, wie lange Zeit ein Spielmann auf einem Fest<br />
für seinen Vortrag eingeräumt erhält, und danach muss er bemessen, ob er einen Ausschnitt oder eine Kurzfassung<br />
bringen muss, und muss improvisieren. Der aus dem Gedächtnis mündlich improvisierende Autor kann auf<br />
Interessen, Aufmerksamkeitsverlauf und Zwischenrufe des Publikums reagieren; anderseits ist Kooperation des<br />
Publikum des gefordert, wenn es einen misslungenen Satz verstehen soll oder sich gar eine wichtige Handlungsvoraussetzung,<br />
die er irrtümlich übersprungen hat, aus der Phantasie ergänzen muss. Jede Dichtungsform hat ihre gattungsspezifischen<br />
Stärken und Schwächen. In der Praxis werden die Vorträge der Jongleurs aber eben doch nicht<br />
nur wertfrei ‚mündlicher Dichtungsstil‘ gewesen sein, sondern oft durchaus auch nach für diese Gattung sinnvollen<br />
Wertmaßstäben schlecht. Dass für schriftliche Dichtung andere Gesetze und Wertmaßstäbe gelten als für mündliche,<br />
heißt ja nicht, dass es solche überhaupt nicht geben kann und jede künstlerische Schwäche durch die Vortragssituation<br />
entschuldigt werden soll. Was uns an schriftlich aufgezeichneten Spielmannsepen, in Frankreich chanson<br />
de geste, erhalten ist, besitzt ganz unterschiedliches Niveau. Von kürzeren Dichtungen, den sogenannten lais, die<br />
von Spielleuten gesungen wurden und bretonische Sagenstoffe zum Inhalt hatten, sind uns einige in schriftlicher<br />
Aufzeichnung erhalten; vor allem die (eher erst nach Chrestiens Erec entstandenen 55 ) Lais der Marie de France<br />
sind von hoher literarischer Qualität.<br />
Leider ist uns keine solche Dichtung über Erec und Enide erhalten. Chrestiens Roman ist für uns das älteste<br />
Zeugnis. Wir wissen daher nicht, ob er wirklich nur vorhandene Erzählungen in eine neue Form gebracht hat, oder<br />
55 Dass Chrestien die Damen einen Lai dichten läßt, reflektiert wohl zeitgenössischen Tatbestand; der erste von einer Frau<br />
gedichtete Lai war also sicherlich älter als Chrestiens Erec. Von den uns erhaltenen Lais glaubt man allerdings, dass sie jünger<br />
sind.