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Literaturgeschichte 750-1500

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sieben Jahre auf dem Meer umher, bis ihn ein Sturm vor Karthago an Land warf. Die Herrin und Gründerin Karthagos hieß<br />

Dido. Sie war die Gattin des Königs von Tyrus gewesen. Ihr Bruder hatte ihrem Gatten die Herrschaft entrissen und ihn getötet,<br />

sie war mit einer kleinen Gefolgschaft, darunter ihrer Schwester, und ihrem Vermögen auf einem Schiff geflohen. Den Grund<br />

für ihre neue Stadt erwarb sie sich listig. Da man ihr den Bau der Stadt nicht gestatten wollte, erbat sie sich wenigstens so viel<br />

Land, wie man mit einer Kuhhaut umspannen könne. Die dummen Leute bewilligten ihr das. Sie ließ eine Kuhhaut in ganz<br />

feine Streifen zerschneiden und diese zusammenknüpfen; damit umspannte sie Raum genug für die Stadt Karthago. Von Karthago<br />

aus eroberte Dido ein weites Reich; sie verehrte die Göttin Juno und wollte durch deren Gnade Karthago zur Weltherrschaft<br />

bringen. In der Nähe ihres Palastes stand das Münster der Juno. Als Dido von den Boten des Eneas hörte, dass dieser in<br />

ihr Land verschlagen wurde, war sie sofort von ihm eingenommen, ohne ihn noch gesehen 40 zu haben. Auch sie war ja heimatlos<br />

und auf einem Schiff hergekommen. Sie ließ ihn daher freundlich (vielleicht sogar zu freundlich) einladen. Eneas erschien<br />

mit seinem Gefolge, Dido gab ihm den Begrüßungskuss, und da „bewirken seine Mutter Venus und sein Bruder Cupido, dass<br />

Frau Dido ihn sehr zu minnen begann. Ihre Minne wurde zu groß, so dass sie deswegen ihr Leben verlor.“ Eneas überreichte<br />

kostbare Geschenke, schließlich erschien auch sein Sohn Ascanjus. Den küsste Venus so mit ihrem Feuer, dass wer ihn als<br />

nächster wieder küsste, vom Feuer der Liebe entzündet würde. Dido herzte und küsste das hübsche Kind, und das Feuer der<br />

Minne griff auf sie über. Eneas saß neben ihr, ein schöner, liebenswerter Mann, und sie konnte es nicht verhindern, dass sie ihn<br />

heftig minnen musste. Doch versuchte sie es vor ihm zu verheimlichen, damit nicht sie zuerst die Liebe zeige. Doch da kam<br />

Herr Cupido mit seiner Fackel und hielt ihr von früh bis spät das Feuer an die Wunde. Sie wurde ganz bleich. Dann errötete<br />

sie wieder, dann verlor sie wieder die Farbe, ihr war heiß und sie fror. Dinge, die sie früher gewusst hatte, vergaß sie. Nach dem<br />

Essen half ihr Eneas beim Aufstehen, und seine Hand dünkte sie sehr lind. Sie wies ihm persönlich ein wunderbares Schlafzimmer<br />

an. In der Nacht konnte sie nicht schlafen, und sie bat Cupido und Venus um Gnade. Sie küsste die Gastgeschenke, die<br />

Eneas gebracht hatte, sie schwitzte und zitterte, und erst bei Tagesanbruch konnte sie einschlafen. Sie umarmte ihre Decke<br />

und träumte, es sei Eneas, und presste sie gegen ihren Mund. Als sie erwachte, erkannte sie, dass es ein Traum gewesen war,<br />

und Eneas nicht bei ihr lag. Allein, ohne Hilfe der Kammermädchen, bekleidete sie sich – es war noch zeitlich am Morgen – und<br />

vertraute sich ihrer Schwester an. Die sprach ihr Mut zu und gab ihr den Rat, ihn freundlich anzusehen. „Wer weiß, vielleicht<br />

liebt er Euch auch, und vermag es nur besser zu verbergen? Die Frauen sind schwächer als die Männer. Euch schadet ein Tag<br />

heimliches Verbergen der Liebe mehr als ihm ein ganzes Jahr.“ Eneas dachte aber an den Auftrag seiner Götter, dass er nach<br />

Italien sollte. Das verschwieg er aber. Dido wusste nichts davon und duldete viel Leid. Sie traute sich nicht, ihm offen zu sagen,<br />

woran sie bei Tag und Nacht dachte. Sie hätte es lieber gehabt, wenn er geruht hätte, dies selbst an ihr zu erkennen. Das dauerte<br />

länger als ihr lieb war. Eines Tages entschloss sie sich, eine Jagd zu veranstalten. Die Jagdhunde stöberten reichlich Wild auf,<br />

die Jäger eilten ihnen nach. Da kam zu Mittag ein Gewitter auf, es regnete und hagelte. Nur Eneas war bei ihr, half ihr vom<br />

Pferd und stellte sich mit ihr unter einen Baum. Schützend nahm er sie unter seinen Mantel. Er fand, dass sie eine gute Figur<br />

hatte. Als er sie mit den Armen umfasste, wurde sein Fleisch und sein Blut warm. Er war ein mutiger Mann und bemächtigte<br />

sich der Frau. Minniglich bat er sie, das zu gewähren, was sie selbst begehrte, doch sie weigerte sich. Da legte er sie nieder, wie<br />

es Venus ihm riet, und sie konnte sich nicht wehren. Er tat seinen Willen an ihr, und zwar so, dass er durch seine Mannhaftigkeit<br />

ihre Huld behielt. Ihr wisst wohl, wie das zuging. Das Gewitter ging vorüber; Dido war froh, weil die Wunde geheilt war, an<br />

der sie gelitten hatte, solange sie Eneas ihre Liebe nicht verraten hatte. Gleichzeitig war sie betrübt, dass sie so schnell seinen<br />

Willen getan hatte, und ihn nicht hatte länger bitten lassen. Sie hatte aber so große Not gelitten, dass sie sonst gestorben wäre. So<br />

ist die richtige Minne: wenn sie jemanden richtig verwundet, kann der ohne ihre Hilfe nicht gesunden. Ihr Schmerz war<br />

etwas gelindert, aber nicht geheilt. Eneas und Dido bemühten sich, vor der Jagdgesellschaft zu verbergen, was geschehen war.<br />

Trotzdem entstand das Gerücht, dass Frau Dido Eneas zum Geliebten habe. Da heiratete sie öffentlich und veranstaltete ein<br />

großes Fest. Damit wollte sie die Schande beschönigen, die sie im Wald begangen hatte. Da wurden die Herren im Land böse<br />

auf sie, denn sie hatte ihre Werbungen ausgeschlagen, weil sie gelobt hatte, nach dem Tod ihres ersten Mannes nicht wieder zu<br />

heiraten. 41 Da ließen dem Eneas die Götter deutlich kundtun, dass er aufbrechen müsse, und nicht säumen dürfe. Heimlich ließ<br />

er die Schiffe zur Abreise fertigmachen, doch erfuhr Dido davon. Sie starb fast vor Schmerz, weinte und bat ihn zu bleiben. Er<br />

leugnete zuerst, doch dann musste er es eingestehen. Doch, so entschuldigte er sich vor ihr, täte er es nicht gern, sondern weil<br />

ihn seine Götter dazu zwängen. Sie klagte maßlos, er versuchte sie zu trösten, war aber nicht umzustimmen. Sie beschimpfte<br />

zuerst seine Götter, die ihm auch nicht geholfen hätten, als er auf dem Meer herumgetrieben war, dann beklagte sie ihr Schicksal,<br />

dass er nicht wenigstens ein Kind von ihr hätte. Als auch das ihn zwar traurig machte, aber nicht umstimmte, begann sie ihm<br />

zu zürnen, beschimpfte ihn, dass er unbarmherzig sei, dass er von Drachen abstamme und dass er ein Herz aus Stein hätte. Als<br />

sie viel derlei geredet hatte, musste Herr Eneas schließlich abreisen. Der Wind trieb seine Schiffe schnell fort. 42 Dido bat ihre<br />

Schwester, ein großes Feuer zu entzünden, und verbrannte alles, was sie an Eneas erinnerte, auch das Bettzeug, auf dem sie<br />

gelegen waren. Dann schickte sie ihre Schwester listig fort. In dem Selbstgespräch vor ihrem Selbstmord entschuldigte sie<br />

Eneas: ‚Ich will Euch nicht schelten. Denn Ihr habt keine Schuld daran, Ihr wart freundlich genug zu mir, doch ich minnte Euch<br />

unmâzen ... Eure Mutter Venus und Euer Bruder Cupido haben mich sehr traurig gemacht, die haben mir mein Herz genommen,<br />

so dass mir alle meine Sinne nichts nützen. O weh, unsanfte Minne, wie hast du mich besiegt! ... O weh über diese Minne, sie ist<br />

53<br />

himmel für wesentlich ansehen, für gerecht; anders empfindet man, wenn man sich fragt, ob es für die Göttermutter vernünftig<br />

ist, außer als die Mächtigste auch als die Schönste gelten zu wollen, und ob nicht Paris vielleicht Recht hatte ... Bei Homer erhalten<br />

die trojanischen Helden auch einiges an Sympathie des Erzählers.<br />

40 Vergleichen Sie das Motiv der ‚Fernliebe’ im Minnesang.<br />

41 Die Stellung des Hochadels ist durch die Heirat in Gefahr: wenn die Landesherrin unverheiratet ist, sind die Herzoge, Grafen<br />

usw. sehr einflußreich; wenn Eneas Landesherr wird, haben sie nichts mehr zu sagen. Das heißt, ein Adelsaufstand gegen Eneas<br />

droht, und es ist großes Glück für ihn, dass seine Götter ihn zur Weiterfahrt mahnen. Die Funktion der Götter als Befehlsgeber<br />

ist wohl, den Vorwurf der Feigheit von Eneas zu nehmen – er verläßt Dido, als die Situation beginnt, brenzlig zu werden.<br />

42 Der Wind als Symbol für das Schicksal wurde von vielen mittelalterlichen Dichtern Vergil abgeborgt. Der Sturm, der Aeneas<br />

nach Karthago treibt, der Wind, der ihn an sein neues Ziel treibt, sind Zeichen dafür, dass das Schicksal den Menschen mit<br />

Sturmgewalt dorthin treibt, wo es ihn haben will, wenn er nicht hinwill, und dass es ihn mit gutem Wind unterstützt, wenn er<br />

freiwillig dorthin zieht, wo es ihn haben will.

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