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Literaturgeschichte 750-1500

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Angst, das Leben zu verlieren, wenn es um die Ehre geht. Erec liebt Enide wirklich, und er rechnet mit der Möglichkeit,<br />

dass er ihr Unrecht tut. Das zeigt sich daran, dass er Lebensgefahr auf sich nimmt, um sie zu prüfen, und<br />

daran, dass er sie seinem Vater anbefiehlt, falls er auf diesem Zug ums Leben kommt. Enide hingegen fürchtet,<br />

Erecs Liebe könnte durch ihren Vorwurf erloschen sein, und sie rechnet ständig damit, von ihm verstoßen zu werden.<br />

In den Weg, der zur Vervollkommnung Erecs führt, ist nun die Aventürenkette eingebaut. Die ersten beiden<br />

Abenteuer entsprechen einander fast genau; das zweite ist nur eine Steigerung des ersten (drei Räuber : fünf Räuber).<br />

Es ist auch insofern eine Steigerung, als hier Erec gar nicht wirklich in Gefahr ist, weil die fünf so laut sind,<br />

dass sogar er es merkt; aber er verstellt sich, um Enide zu prüfen. Das ist ein Zeichen dafür, dass sich in Erec nichts<br />

verändert hat, er noch nichts gelernt hat, und dass es eine Weile dauert, bis sein Reifungsprozess beginnt. Die beiden<br />

Räuberabenteuer erfolgen auch noch am ersten Tag. Nach der Nacht im Freien ist der durchhungerte Erec immerhin<br />

schon bereit, wenn die Gesellschaft (der Knappe) ihnen Verpflegung und Unterkunft anbietet, dies anzunehmen.<br />

Sein Verhältnis zu Enide bleibt aber unverändert (dass sie es vorzieht, ihn zu erzürnen, als in die Hände<br />

von Räubern zu fallen, ist ja noch kein Liebesbeweis). Wodurch der Graf ermuntert wird, Enide Avancen zu machen.<br />

Am nächsten Tag ist Erec noch nicht mit sich selbst ins Reine gekommen, noch weniger als am ersten Tag: er<br />

merkt, da sie ihn dem Grafen vorzieht, obwohl er sich so lieblos zeigt, dass sie ihn wirklich liebt. Trotzdem wiederholt<br />

er seinen Befehl, ihn bei Strafe nicht wieder anzureden. Obwohl dann die Verfolger von hinten kommen, hört<br />

die vorausreitende Enide sie zuerst, so sehr ist er anscheinend in Gedanken versunken – am ersten Tag gab es wenigstens<br />

noch die Begründung, dass die vorausreitende Enide die Räuber als erste sehen musste. Aber eben das hat<br />

sich geändert, dass er jetzt wirklich nachzudenken begonnen hat. Erst während bis nach dem bestandenen ‚ersten<br />

Grafenabenteuer‘ beginnt Erec zu erkennen, dass Enide ihn liebt. Sein Denkprozess ist in Gang gekommen und<br />

beginnt Wirkungen zu zeigen. Die erste Guivret – Aventüre beginnt zwar mit einer Drohung Erecs, weil Enide<br />

wieder nicht geschwiegen hat, aber die Drohung ist nicht mehr in so scharfen Worten; wir erkennen, dass sie nicht<br />

mehr ernst gemeint ist. Der Erzähler sagt uns, dass er nun weiß, dass sie ihn genauso liebt wie er sie. Trotzdem ist<br />

aber seine Versonnenheit jetzt noch größer als vorher; die zweite Räubergruppe hätte er auch ohne Enides Warnung<br />

bemerkt. Seine Worte und seine Einstellung erscheinen jetzt widersprüchlich. Wir vermuten (der Erzähler hilft uns<br />

nicht: er sagt uns zwar, dass Erec nachdenklich wird, aber er verrät uns die ganze Zeit über nicht, was Erec denkt),<br />

Erecs Problem ist größer geworden: er glaubt zu wissen, was Liebe ist, er hat jetzt auch gemerkt, dass Enide ihn<br />

wirklich liebt, aber sie verhält sich nicht so, wie es seiner Vorstellung von Liebe entspricht. Und, wenn er nun<br />

weiß, dass sie ihn liebt: wie sollte er sich in Zukunft verhalten, wenn er jetzt an den Hof zurückkehren würde? Noch<br />

findet er keine Antwort. Dass er, obwohl er in Guiveret einen Freund gewonnen hat, nicht mit dem zusammen einen<br />

Arzt aufsucht, zeigt, dass sein Problem mit der Gesellschaft noch ungelöst ist. Die Lösung dieses Problems sucht er<br />

nicht in Grübeln, sondern er sucht, ob sie ihm begegnet, von außen zukommt. Seine Interaktion mit Enide funktioniert<br />

aber schon wieder: den herangaloppierenden Keu merkt er genau so wie Enide (die den Schleier vors Gesicht<br />

zieht), ein Zeichen, dass er nicht mehr in Gedanken versunken ist, und sie ahnt richtig, was er vorhat. Trotzdem ist<br />

er nicht bereit, an den Artushof zu kommen: Er ist nicht im Zustand der Freude, die dem Artushof ziemt. Doch der<br />

Artushof scheint seine Anforderungen niedriger zu stellen als Erec: sogar gegen Erecs Willen sucht der Hof ihn auf,<br />

wenn er nicht an den Hof kommen will. Der Artushof begibt sich hier aus seiner Rolle des ruhenden Zentrums 57 ,<br />

das alle Ritter aufsuchen, und sucht den fremden Ritter auf, der einen Artusritter besiegt hat. Erecs volle Integration<br />

wird durch die noch nicht verheilte frische Wunde unmöglich gemacht: ihretwegen bekommt er ein eigenes Zelt<br />

zum Übernachten angewiesen. Enide hingegen schläft mit der Königin zusammen. Da Erec sich noch nicht in<br />

dem Zustand fühlt, in dem man am Artushof sein sollte, kann ihm auch das wunderbare Heilmittel nicht helfen –<br />

vor allem, weil er noch vor Tagesanbruch den Hof verlässt (die immer wiederkehrenden Aufbrüche im Morgengrauen<br />

schaffen eine eigentümliche Stimmung des Gehetztseins) und das nächste Abenteuer sucht. Was er sucht,<br />

scheint die Art zu zeigen, wie die nächste Geschichte beginnt: Erec sucht ritterliche Bewährung, denn das nächste<br />

Abenteuer liegt nicht am Weg, sondern abseits davon hört er den Klageruf eines Fräuleins. Dementsprechend ist<br />

auch Enide passiv, die vor nichts zu warnen braucht, und sie braucht auch das Abenteuer nicht mit zu bestehen. Sie<br />

hat ihre Resozialisierung schon erreicht, sie muss am Weg warten, während er noch im Dickicht Abenteuer zu<br />

bestehen hat. Daher rührt auch seine Angst, sie könne ihm inzwischen geraubt werden (am ersten Tag hätte es ihm<br />

genau so wenig bedeutet, wenn sie ein Opfer der Räuber geworden wäre, wie wenn er selbst dabei ums Leben gekommen<br />

wäre). Der Kampf gegen zwei Riesen gleichzeitig ist zwar eine deutliche Steigerung gegenüber den früheren<br />

Gegnern, trotzdem hat sich Erec noch nicht gegen Seinesgleichen bewährt, wie im ersten Teil gegen Yder – die<br />

Gegner des zweiten Teils waren bisher entweder mangelhaft gerüstet oder zwergenhaft. Seine Ehre ist noch nicht<br />

ganz wiederhergestellt, und der Kampf gegen die beiden Riesen ist zwar übermenschlich, fordert auch Erecs letzte<br />

Kräfte, aber in einem Punkt (der Bewaffnung) immer noch nicht gleichwertig dem Kampf gegen den ‚besten Ritter‘.<br />

Erec will diese Entscheidung erzwingen, koste es, was es wolle. Die Zeit will er nicht wahrhaben, die die Natur<br />

zur Ausheilung der Wunden braucht. Doch die Natur zeigt ihm seine Ohnmacht, indem er in Ohnmacht fällt. Im<br />

‚zweiten Grafenabenteuer‘ ist Erec äußerlich viel mehr in Gefahr als im ersten. Dort war er nur versonnen, hier ist<br />

57 Ortsveränderungen des Hofes gibt es im Erec mehrere; der Artushof ist, wie auch reale Höfe, ein herumreisender Hof. Aber<br />

ein Ritter kommt normalerweise an den Hof, nicht der Hof zum Ritter. In diesem Sinne, nicht im geographischen, ist der Ausdruck<br />

‚ruhendes Zentrum’ zu verstehen.

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