Literaturgeschichte 750-1500
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Alles, des ich dir gesage.<br />
Daß ich so viel davon geredet habe, das ist mir leid, denn ich habe bisher noch nie so etwas erlebt (‚war dessen ganz ungewohnt‘),<br />
eine so beschaffene Mühe, wie ich sie jetzt heimlich (tougen ‚heimlich‘) trage – Du darfst (‚sollst‘) ihm nie nicht sagen,<br />
was ich dir jetzt gesagt habe.<br />
Die Dame hält sich erst zurück, dann verrät sie mehr als sie wollte, und dann widerruft sie die Nachricht überhaupt;<br />
der Bote soll überhaupt nicht in Aktion treten, denn jedes Wort, das er sagen könnte, könnte schon ein Wort zu viel<br />
sein.<br />
Dieses Lied könnten wir wie eine kleine Szene eines Liebesromans lesen. Wie würde der ausgehen? Ob der<br />
Bote befehlsgemäß nicht in Aktion treten oder bei seiner nächsten Begegnung mit dem Ritter doch etwas ausplaudern<br />
wird, können wir unberücksichtigt lassen: Auf jeden Fall wird der Ritter, nachdem er keine deutliche Abfuhr<br />
mit groben Worten erhält, irgendwie annehmen, daß er der Dame doch sympathisch ist, und daraus eine Hoffnung<br />
schöpfen, die allerdings, so gut kennen wir als Publikum die Dame, unberechtigt ist: In ihr werden die Gewissensbisse<br />
und die Angst immer stärker sein; er wird nie von ihr los, aber auch nie mit ihr ganz zusammen kommen:<br />
eben der Sänger Reinmars. Zwei weitere Lieder, die auf dieses anspielen, also offenbar als ‚Fortsetzung‘ zu denken<br />
sind, zeigen die Dame nur im Monolog. Sie wird sich darin immer klarer, daß sie den Ritter wirklich liebt –<br />
aber sie scheint sich jetzt sicher zu sein, daß sie das nur zu sich selbst, zu keinem Boten sagen darf. Ob diese beiden<br />
Figuren, Reinmars hartnäckiger Sänger und die ängstliche Dame, auch tatsächlich zwei Figuren sind oder nur eine,<br />
nämlich der Sänger und sein Wahn, die Dame, die ihn nicht liebt und auch nicht auf seine Lieder reagiert, liebe ihn<br />
und reagiere nur deswegen nicht, weil sie Angst vor dem Höllenfeuer hat? Gibt es dieses Gespräch zwischen der<br />
Dame und dem Boten in unserem kleinen Drama ‚wirklich‘ oder nur im Kopf des Ritters?<br />
WALTHER VON DER VOGELWEIDE<br />
Aufgabe 1:<br />
Lesen Sie einige Minnelieder Walthers (in beliebiger Ausgabe; Sie können sich auch einfach den ‚Strophenextrakt‘<br />
meines Walther-Buches aus dem Internet von meiner Homepage herunterladen), an politischen Sprüchen<br />
zumindest die drei ‚Reichssprüche‘ und aus seiner Altersdichtung zumindest die ‚Elegie‘ (124,1).<br />
Aufgabe 2:<br />
Über Walther ist 2005 ein Sammelband mit wichtigen Aufsätzen erschienen, der den aktuellen Stand der<br />
Walther-Forschung spiegelt:<br />
Der achthundertjährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide – Wolfger von Erla – Zeiselmauer. Hg. Helmut<br />
BIRKHAN und Ann COTTEN, Wien 2005.<br />
Verschaffen Sie sich an Hand dieses Bandes, den Sie in der Bibliothek benutzen können, einen Überblick, mit<br />
welchen Fragen sich die Walther-Forschung heutzutage hauptsächlich beschäftigt. Nicht versuchen, den ganzen<br />
Band zu lesen, sondern durchblättern!<br />
#<br />
Was ist Minne für Walther (L 69,1)? 24<br />
Saget mir ieman, waz ist Minne?<br />
Weiz ich des ein teil, sô wist ichs gerne mê.<br />
Der sich baz denn ich versinne,<br />
der berihte mich durch waz si tuot sô wê.<br />
Minne ist minne, tuot si wol:<br />
tuot si wê, sô enheizet si niht rehte minne,<br />
sus enweiz ich wie si danne heizen sol.<br />
Kann mir jemand sagen, was Minne ist? Wenn ich es auch ungefähr weiß, so wüßte ich es gern genauer. Wer es besser als ich<br />
versteht, der möge mir erklären, warum sie so weh tut. Minne ist Minne, wenn sie wohltut. Wenn sie wehtut, so heißt sie nicht<br />
richtige Minne. Wie sie dann heißen soll, weiß ich nicht.<br />
Ob ich rehte râten künne<br />
waz diu minne sî, sô sprechet jâ.<br />
Minne ist zweier herzen wünne:<br />
teilent si gelîche, sôst diu minne dâ:<br />
sol aber ungeteilet sîn,<br />
24 M. G. Scholz hat (in: Mück) die Strophenfolge von C verteidigt, wo die hier letzte Strophe Kan mîn frouwe süeze siuren? als<br />
erste steht. Der ‚Programmliedcharakter‘ käme dann nicht so deutlich zum Ausdruck, denn in den Rahmenstrophen wäre das<br />
Zentralthema die frouwe und nur in den Mittelstrophen die Minne, und das tut dem Lied vielleicht sogar gut. Ich kann mich<br />
Scholz durchaus anschließen, für den die Fassung von C ‚die schönere‘ ist, halte es aber doch für Überkritik, die hier gebotene<br />
und auf EFO basierende Strophenfolge deswegen gering zu schätzen, weil in sie eine hier weggelassene, doch wohl sicher unechte<br />
Strophe (die Scholz für möglicherweise echt hält) eingeschoben ist.