Literaturgeschichte 750-1500
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98<br />
Jedem wollte scheinen, dass der andere ihm den Tod brächte. Die Liebe war so gewaltig, dass es sie beide mit unwiderstehlicher<br />
Macht aneinander zwang. Dies alles bewirkte jedoch einzig und allein der Liebestrank. Die Edelfrau schämte sich, dass sie<br />
den schönen Tristrant bereits nach so kurzer Zeit so heiß begehrte. Doch auch ihn brachten die Bande der Liebe in große Not.<br />
Die Liebe hatte ihn ganz und gar in den Bann geschlagen und bereitete ihm heftige Qualen. Beide wußten nicht, was mit ihnen<br />
geschehen war. Alles war plötzlich völlig verändert. Sie fühlten abwechselnd Hitze und Kälte, die Wangen wurden bald<br />
schneeweiß, bald glühend rot, unvermittelt brachen sie in Tränen aus. Beide waren in großer Sorge darüber, dass sie den anderen<br />
so lieb gewonnen hatten, und keiner von beiden begriff, aus welchem Grunde der andere ganz offenbar und unverhohlen litt.<br />
Fast wären sie daran zugrunde gegangen. Vor Verzweiflung vermochte Tristrant nicht länger zu verweilen. Beide fühlten schweres<br />
Herzeleid, doch legten sie sich nieder und schwiegen über die Ursache ihrer Qualen. Sie verbargen sie vielmehr tief in ihren<br />
Herzen.<br />
Aus Isaldes Selbstgespräch:<br />
Oft genug habe ich ihn vor Augen gehabt, und erst jetzt scheint er mir unübertrefflich! Ach, wo bleiben mein Herz und mein<br />
Verstand? Warum könnt ihr nicht von ihm lassen? ‚Wer soll uns das wohl beibringen?‘ ‚Nur widerwillig werde ich‘s euch<br />
lehren!‘ ‚Wir haben nicht den Mut, es zu lernen.‘ ‚Warum denn nur?‘ ‚Die Liebe wars. Sie unterwies uns, dass wir fortan nur an<br />
ihn denken können‘... ‚Ach, die Liebe ist es also... Ich arme Frau habe fest daran geglaubt, sie sei voller Liebreiz und Süßigkeit.<br />
Nun hat sie aber mein Herz beschwert. Sie ist nicht süß, sondern essigsauer. Ach, edle Frau Amor 85 (!), wann schenkst du mir<br />
wieder deine Süßigkeit, so dass ich deinen Ruhm künden kann... Liebe, quäle mich nicht so sehr, damit ich dich zu ertragen<br />
vermag! So übelwollend wie gegen mich bist du bei anderen Frauen sicher nicht. Was habe ich dir nur getan?... Heimtückisch<br />
hast du mich gefangengenommen ... Ich bin aus allem Gleichmaß geraten ... Ach Minne, du fügst meinem Herzen unerträgliche<br />
Schmerzen zu. Minne, deine Allgewalt läßt mich erglühen und zu Eis erstarren. Minne, wenn du mir nicht deine Gnade<br />
schenkst, kann ich nicht weiterleben ... Minne, du kannst deine untertänige Magd völlig zugrunde richten und in den Tod treiben...<br />
Ich liebe einen Mann, dem es nie auch nur in den Sinn kam, mich wiederzulieben. Als ich ihm von meinem Vater mit<br />
vollem Recht anverlobt werden sollte, wies er dies zurück, denn ich war ihm offenbar völlig gleichgültig.‘<br />
Tristrant und Isalde lagen liebeskrank darnieder. Drei Tage dauerte es, bis Brangene merkte, dass der Liebestrank fehlte, und<br />
was wirklich geschehen war. Brangene zog Kurnewal ins Vertrauen, und die beiden beschlossen, den Liebenden Gelegenheit<br />
zu geben, einander zu sprechen. Sie ließen das Schiff wieder einen Hafen anlaufen und die Besatzung an Land gehen. Kurnewal<br />
gab Tristrant den Rat, seine Herrin in ihrer Kajüte aufzusuchen, wie es ihr ginge. Isalde begrüßte ihn zunächst ganz förmlich,<br />
und er war überzeugt, sie liebe ihn nicht. Brangene und Kurneval entfernten sich, und in der Kajüte blieb niemand zurück außer<br />
Tristrant, Isalde und der Minne. Auch der Erzähler entfernt sich, und wir erfahren nicht genau, wie die folgende Szene verlief,<br />
doch endete sie so, dass die beiden glückselig beieinander lagen und die Wonnen der Liebe genossen, bis die Küste von Markes<br />
Reich in Sicht kam.<br />
Die Hochzeitsnacht:<br />
Der Hochzeitstermin nahte, und Isalde kam in Angst, weil Marke in der Hochzeitsnacht den Betrug entdecken würde. Die beiden<br />
beschlossen, Brangene, die sich jungfräulich bewahrt hatte, zu bitten, sich in der ersten Nacht zu Marke zu legen. Da Brangene<br />
den Trank nicht besser gehütet und dann auch noch die beiden zusammengebracht hatte, mußte sie die Schuld auf sich<br />
nehmen. Tristrant redete Marke ein, in Irland herrsche die Sitte, dass in der Hochzeitsnacht kein Licht brennen dürfe. Er selbst<br />
bot sich an, das Amt des Kämmerers zu übernehmen und die Lichter zu löschen. Brangene wurde heimlich von Tristrant in das<br />
Bett des Königs gebracht. Dies war der schlimmste Betrug, den Tristrant je beging, denn zur gleichen Zeit im selben Schlafgemach<br />
lag er an der Seite seiner Herrin. Doch kann man es eigentlich nicht Untreue nennen, was er tat, handelte er doch gegen<br />
seinen eigenen Willen: der verfluchte Trank hatte ihn so weit gebracht. Um Mitternacht kam Brangene herbeigeschlichen und<br />
forderte ihre Herrin auf, sich zu erheben und zu ihrem Ehemann zu gehen. Isalde fürchtete, Brangene könnte sie dem König<br />
verraten, und plante einen Mordanschlag. Den gedungenen Mördern tat aber Brangene leid, und sie ließen sie am Leben. Da<br />
Brangene ihre Herrin trotz dieses Anschlags nicht verriet, erkannte Isalde ihre Treue und nahm sie reumütig wieder auf.<br />
Die Baumgartenszene:<br />
(3081ff.) Tristrant war immer schon Ziel des Neides der Höflinge gewesen. Besonders ein anderer Schwestersohn des Königs,<br />
Antret, vertrug nicht, dass Tristrant ihm vorgezogen wurde. Er und einige andere Höflinge verleumdeten also Tristrant verräterisch.<br />
Sie logen dem König vor, dass Tristrant dessen Frau liebe. Marke glaubte es zunächst nicht, doch noch am selben Abend<br />
sah er, wie Tristrant und Isalde einander vor seinem Bett küßten. Marke verbannte Tristrant sofort von seinem Hof. Doch<br />
Brangene und Kurneval halfen wieder bei der nächsten List, die Tristrant ausheckte: er stellte sich bei Tag schwerkrank und<br />
verschob so seine Abreise. Nachts traf sich aber das Liebespaar im Park des Königs. Das Zeichen, dass er auf die Geliebte<br />
wartete, war ein Hölzchen, in das ein Kreuz mit fünf Enden eingeschnitten war. Das warf er im Park oberhalb der Kemenate in<br />
den Bach, der die Kemenate durchfloß 86 zusammen mit einigen Blättern, die einerseits ganz unverdächtig waren, anderseits<br />
Signal genug für Isalde, zu schauen, ob der kleine Span mit dem Kreuz nachgeschwommen käme. 87 Dann trafen sich Tristrant<br />
und Isalde unter der Linde an der Quelle. Ein teuflischer Zwerg half Tristrants Feinden, das Geheimnis auszukundschaften.<br />
Marke tat so, als ginge er für eine Woche auf die Jagd, um die beiden in Sicherheit zu wiegen. Abends stieg er mit dem Zwergen<br />
auf den Baum, und richtig kam Tristrant und warf Blätter und den Span ins Wasser. Da sah er, vom Mond in das Wasser der<br />
Quelle geworfen, 88 die Schatten der beiden, die auf dem Baume saßen. Er war klug genug, nicht hinaufzublicken, um nicht zu<br />
verraten, dass er sich belauscht wußte. Als Isalde kam, ging er ihr nicht entgegen, sondern gab ihr nur heimliche Zeichen mit der<br />
Hand. Sie merkte, dass da etwas nicht stimmen konnte, und entdeckte gleichfalls die Schatten. So spielten die beiden dem König<br />
eine Komödie vor: Tristrant tat so, als hätte er um dieses Treffen ersucht, damit die Königin für ihn Fürbitte beim König ein-<br />
85 Hier merkt man die Schwierigkeit des Übersetzers, dass deutsch Minne Femininum und daher eine weibliche Allegorie ist, lat.<br />
und franz. amo(u)r aber Maskulinum.<br />
86 Auch aus mittelalterlichen Klöstern ist uns diese Art der Wasserleitung und -spülung bekannt.<br />
87 Die klare Trennung von auffälligem Aufmerksamkeitssignal („unverdächtige“, nicht zeichenhafte Blätter) und unauffälligem,<br />
aber eindeutigem eigentlichem Zeichen ist eine Freude für jeden Semiotiker.<br />
88 Dass in dieser Nacht der Mond hell schien, ist weder Zufall, noch einfach Regienotwendigkeit, sondern Zeichen dafür, dass<br />
das Schicksal und die Naturgewalten (bzw. in christlicher Interpretation Gott) den Liebenden hilft.