Literaturgeschichte 750-1500
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diu hât für war wol engels muot:<br />
ir lîp hât ouch wol engels schîn:<br />
daz nim ich ûf die triuwe mîn.<br />
wandel ‚Veränderung‘; behuot(et) PPP von behüeten.<br />
die hat fürwahr die Gesinnung eines Engels,<br />
und sie erglänzt auch wie ein Engel;<br />
dafür verbürge ich mich.<br />
Beachten Sie, wie das Lob der Frauen konsequent mit religiösem Wortschatz ausgesprochen wird. Die Frau wird<br />
dadurch zu einer Art ‚Göttin‘ emporstilisiert. Bei Ulrich wird das aber im Laufe der Erzählung durch eine gute<br />
Portion Humor relativiert, so dass man bei ihm nie den Eindruck bekommt, das ‚Ich‘ der Geschichte verhalte sich<br />
wie der literarische Typ des lächerlichen zu schüchternen Liebhabers, der nie Erhörung finden kann, weil er eigentlich<br />
Angst vor den Frauen hat. Vor allem kann Ulrich sich keinen Dienst vorstellen, dem nicht irgendein Lohn<br />
zuteil wird (worin der Lohn der Dame bestanden hat, den er schließlich erhielt, verschweigt er; es war also etwas<br />
Verschweigenswertes).<br />
Nâch disem lob sô heb ich an<br />
Nach diesem Preis der Frauen beginne ich<br />
ein mære als ich beste kan.<br />
eine Geschichte, so gut ich es kann.<br />
In gotes namen ich ez hebe,<br />
Ich beginne im Namen Gottes,<br />
und wünsche des daz er iu gebe und wünsche, dass er euch<br />
gein mir sô zühterîchen muot,<br />
so huldvoll mir gegenüber gestimmt sein läßt,<br />
daz ez iuch alle dunke guot.<br />
dass es euch allen gefällt.<br />
Sô wirt mîn arbeit niht verlorn. Dann ist meine Mühe nicht verloren.<br />
Ich hab das liegen dran versworn. Ich schwöre, die reine Wahrheit zu berichten (‚habe das Lügen daran verschworen‘).<br />
Dass Ulrich schwört, nicht zu lügen, ist nicht einfach humorvolle Umschreibung des Gegenteils, sondern hat<br />
natürlich einen Doppelsinn: in einer gewissen Weise ist alles wahr, was er berichtet – aber in welcher?<br />
Dô ich ein kleines kindel was,<br />
Als ich ein kleines Kind war,<br />
dô hôrt ich ofte daz man las,<br />
hörte ich oft, wie man vorlas,<br />
und hôrt ouch die wîsen sagen,<br />
oder wie die weisen Leute sagten,<br />
daz niemen wol bî sînen tagen<br />
dass niemand zu seinen Lebzeiten<br />
erwerben möhte werdekeit,<br />
Ansehen erlangen könne,<br />
wan der ze dienest wær bereit<br />
der nicht bereit sei,<br />
guoten wîben sunder wanc:<br />
edlen Frauen beständig zu dienen.<br />
die heten hôhen habedanc.<br />
Deren Dank sei erstrebenswert.<br />
werdekeit ‚was wert und würdig ist‘; sunder ‚ohne‘ (‚abgesondert von‘); wanc ‚Wanken, Unbeständigkeit‘.<br />
Ulrichs Kindheit wird hier als eine Zeit vorgestellt, in der die wîsen noch Freude als Ziel der Gesellschaft nannten,<br />
und als eine der Grundvoraussetzungen für die Freude des Individuums die Wertschätzung durch andere<br />
Individuen, sprich: die Gesellschaft, und den Dienst an den Damen als Mittel, diese zu erreichen. Damit sind<br />
zentrale Themen des Minnesangs angesprochen, wie er in dieser Zeit, etwa 1200 - 1210, von Walther von der<br />
Vogelweide und seinen Zeitgenossen gepflegt wurde.<br />
Die wîsen hôrt ich sprechen sô,<br />
Ich hörte auch, wie die Weisen sprachen,<br />
daz niemen wære rehte frô<br />
dass niemand richtig froh werden könne<br />
noch in der werlte wol gemuot,<br />
oder in weltlichem Leben frohgemut,<br />
wan der ein reine vrouwen guot,<br />
der nicht eine reine, edle Dame,<br />
diu wol von tugenden hiez ein wîp,<br />
die so tugendreich sei, wie es sich für eine Frau gehört,<br />
hete liep als sîn selbes lîp:<br />
so sehr liebe wie sich selbst.<br />
daz heten alle die getân,<br />
Das hätten auch bisher alle so gehalten,<br />
die gern êre wolden hân.<br />
die darauf Wert legten, als ehrenwert zu gelten.<br />
von tugenden ‚auf Grund ihrer Tugenden‘; ein wîp heizen ‚den Namen Frau tragen‘.<br />
Wenn man den Namen ‚Frau‘ wegen seiner Tugenden bekommt und nicht aus biologischen Gründen, heißt das,<br />
dass Frauen ihrer Natur nach tugendhaft sind, und eine nicht tugendhafte Frau gegen die Natur handelt. Damit sind<br />
die Frauen allgemein stark aufgewertet, eine einzelne Frau, die nicht tugendhaft ist, aber außerhalb ihres<br />
Geschlechtes gestellt und damit aufs Äußerste, bis zum Verlust der Menschenwürde, abgewertet. Der Mann besitzt<br />
nicht prinzipiell diesen hohen Wert und erfüllt nicht immer die hohen Anforderungen, die man an eine Frau<br />
stellt, aber dafür bleibt er sogar dann noch Mann, wenn er Schande auf sich geladen hat. Beachten Sie, dass Ulrich<br />
hier nicht vrouwe ‚Dame, Herrin‘, sondern wîp ‚Frau‘ setzt: die Forderung der Tugendhaftigkeit richtet sich an das<br />
biologische Geschlecht, nicht an die Sozialschicht!<br />
Dô ich daz hôrt, ich was ein kint,<br />
und tump als noch die jungen sint,<br />
sô tump daz ich die gerten reit;<br />
und dâht doch in der tumpheit<br />
„sît daz diu reinen süezen wîp<br />
sô hôhe tiurent mannes lîp,<br />
sô wil ich dienen immer mê<br />
den vrouwen, swie so ez mir ergê.<br />
tiuren ‚teuer machen‘.<br />
Lîp guot muot und dar zuo daz leben<br />
Als ich das hörte, war ich ein Kind,<br />
und dumm, wie Kinder immer sind,<br />
so dumm, dass ich eine Gerte als Reitpferd benutzte.<br />
Trotz meiner Unerfahrenheit dachte ich mir:<br />
„weil nun die reinen, lieblichen Frauen<br />
den Mann so sehr veredeln,<br />
so will ich den Frauen für ewig dienen,<br />
wie es mir auch ergehe.<br />
Leib, Gut, Gesinnung und das Leben obendrein,