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Literaturgeschichte 750-1500

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120<br />

diu hât für war wol engels muot:<br />

ir lîp hât ouch wol engels schîn:<br />

daz nim ich ûf die triuwe mîn.<br />

wandel ‚Veränderung‘; behuot(et) PPP von behüeten.<br />

die hat fürwahr die Gesinnung eines Engels,<br />

und sie erglänzt auch wie ein Engel;<br />

dafür verbürge ich mich.<br />

Beachten Sie, wie das Lob der Frauen konsequent mit religiösem Wortschatz ausgesprochen wird. Die Frau wird<br />

dadurch zu einer Art ‚Göttin‘ emporstilisiert. Bei Ulrich wird das aber im Laufe der Erzählung durch eine gute<br />

Portion Humor relativiert, so dass man bei ihm nie den Eindruck bekommt, das ‚Ich‘ der Geschichte verhalte sich<br />

wie der literarische Typ des lächerlichen zu schüchternen Liebhabers, der nie Erhörung finden kann, weil er eigentlich<br />

Angst vor den Frauen hat. Vor allem kann Ulrich sich keinen Dienst vorstellen, dem nicht irgendein Lohn<br />

zuteil wird (worin der Lohn der Dame bestanden hat, den er schließlich erhielt, verschweigt er; es war also etwas<br />

Verschweigenswertes).<br />

Nâch disem lob sô heb ich an<br />

Nach diesem Preis der Frauen beginne ich<br />

ein mære als ich beste kan.<br />

eine Geschichte, so gut ich es kann.<br />

In gotes namen ich ez hebe,<br />

Ich beginne im Namen Gottes,<br />

und wünsche des daz er iu gebe und wünsche, dass er euch<br />

gein mir sô zühterîchen muot,<br />

so huldvoll mir gegenüber gestimmt sein läßt,<br />

daz ez iuch alle dunke guot.<br />

dass es euch allen gefällt.<br />

Sô wirt mîn arbeit niht verlorn. Dann ist meine Mühe nicht verloren.<br />

Ich hab das liegen dran versworn. Ich schwöre, die reine Wahrheit zu berichten (‚habe das Lügen daran verschworen‘).<br />

Dass Ulrich schwört, nicht zu lügen, ist nicht einfach humorvolle Umschreibung des Gegenteils, sondern hat<br />

natürlich einen Doppelsinn: in einer gewissen Weise ist alles wahr, was er berichtet – aber in welcher?<br />

Dô ich ein kleines kindel was,<br />

Als ich ein kleines Kind war,<br />

dô hôrt ich ofte daz man las,<br />

hörte ich oft, wie man vorlas,<br />

und hôrt ouch die wîsen sagen,<br />

oder wie die weisen Leute sagten,<br />

daz niemen wol bî sînen tagen<br />

dass niemand zu seinen Lebzeiten<br />

erwerben möhte werdekeit,<br />

Ansehen erlangen könne,<br />

wan der ze dienest wær bereit<br />

der nicht bereit sei,<br />

guoten wîben sunder wanc:<br />

edlen Frauen beständig zu dienen.<br />

die heten hôhen habedanc.<br />

Deren Dank sei erstrebenswert.<br />

werdekeit ‚was wert und würdig ist‘; sunder ‚ohne‘ (‚abgesondert von‘); wanc ‚Wanken, Unbeständigkeit‘.<br />

Ulrichs Kindheit wird hier als eine Zeit vorgestellt, in der die wîsen noch Freude als Ziel der Gesellschaft nannten,<br />

und als eine der Grundvoraussetzungen für die Freude des Individuums die Wertschätzung durch andere<br />

Individuen, sprich: die Gesellschaft, und den Dienst an den Damen als Mittel, diese zu erreichen. Damit sind<br />

zentrale Themen des Minnesangs angesprochen, wie er in dieser Zeit, etwa 1200 - 1210, von Walther von der<br />

Vogelweide und seinen Zeitgenossen gepflegt wurde.<br />

Die wîsen hôrt ich sprechen sô,<br />

Ich hörte auch, wie die Weisen sprachen,<br />

daz niemen wære rehte frô<br />

dass niemand richtig froh werden könne<br />

noch in der werlte wol gemuot,<br />

oder in weltlichem Leben frohgemut,<br />

wan der ein reine vrouwen guot,<br />

der nicht eine reine, edle Dame,<br />

diu wol von tugenden hiez ein wîp,<br />

die so tugendreich sei, wie es sich für eine Frau gehört,<br />

hete liep als sîn selbes lîp:<br />

so sehr liebe wie sich selbst.<br />

daz heten alle die getân,<br />

Das hätten auch bisher alle so gehalten,<br />

die gern êre wolden hân.<br />

die darauf Wert legten, als ehrenwert zu gelten.<br />

von tugenden ‚auf Grund ihrer Tugenden‘; ein wîp heizen ‚den Namen Frau tragen‘.<br />

Wenn man den Namen ‚Frau‘ wegen seiner Tugenden bekommt und nicht aus biologischen Gründen, heißt das,<br />

dass Frauen ihrer Natur nach tugendhaft sind, und eine nicht tugendhafte Frau gegen die Natur handelt. Damit sind<br />

die Frauen allgemein stark aufgewertet, eine einzelne Frau, die nicht tugendhaft ist, aber außerhalb ihres<br />

Geschlechtes gestellt und damit aufs Äußerste, bis zum Verlust der Menschenwürde, abgewertet. Der Mann besitzt<br />

nicht prinzipiell diesen hohen Wert und erfüllt nicht immer die hohen Anforderungen, die man an eine Frau<br />

stellt, aber dafür bleibt er sogar dann noch Mann, wenn er Schande auf sich geladen hat. Beachten Sie, dass Ulrich<br />

hier nicht vrouwe ‚Dame, Herrin‘, sondern wîp ‚Frau‘ setzt: die Forderung der Tugendhaftigkeit richtet sich an das<br />

biologische Geschlecht, nicht an die Sozialschicht!<br />

Dô ich daz hôrt, ich was ein kint,<br />

und tump als noch die jungen sint,<br />

sô tump daz ich die gerten reit;<br />

und dâht doch in der tumpheit<br />

„sît daz diu reinen süezen wîp<br />

sô hôhe tiurent mannes lîp,<br />

sô wil ich dienen immer mê<br />

den vrouwen, swie so ez mir ergê.<br />

tiuren ‚teuer machen‘.<br />

Lîp guot muot und dar zuo daz leben<br />

Als ich das hörte, war ich ein Kind,<br />

und dumm, wie Kinder immer sind,<br />

so dumm, dass ich eine Gerte als Reitpferd benutzte.<br />

Trotz meiner Unerfahrenheit dachte ich mir:<br />

„weil nun die reinen, lieblichen Frauen<br />

den Mann so sehr veredeln,<br />

so will ich den Frauen für ewig dienen,<br />

wie es mir auch ergehe.<br />

Leib, Gut, Gesinnung und das Leben obendrein,

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