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Literaturgeschichte 750-1500

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anderen Kronlandes, sondern der Hoftruchsess von Artus, der ständig am Hof weilt und dort tatsächlich Truchsessendienste<br />

leistet. Und die tatsächlichen Truchsessen waren, sehr im Gegensatz zu ihren fürstlichen Pendants, bei<br />

jedermann verhasst: bei der Hofgesellschaft, weil der Herrscher unangenehme Befehle nicht selbst verkündete,<br />

sondern dem ihm ergebenen Truchsessen übertrug; und beim Fürsten selbst nicht minder, weil die Truchsessen<br />

eben durch die ihnen vom Herrscher übertragenen Aufgaben faktisch so hohe Macht besaßen, dass sie es sich<br />

manchmal leisten konnten, gegen den Willen ihres Herrn zu handeln. Bei Chrestien ist er der tatsächlich das Amt<br />

ausübende ‚Verwaltungsbeamte‘, dem die übrige Hofgesellschaft seine Position neidet und der daher zur Zielscheibe<br />

ihres Spottes wird, und mit dem der König seinen Ärger hat. Zufällig wissen wir, dass sich auch Heinrich<br />

II. über seinen eigenen Truchsess der Normandie sehr ärgern konnte, was bei Heinrichs cholerischem Naturell folgendermaßen<br />

aussah: 58<br />

Da brach Heinrich gegen Richard von Humez (seinen Seneschall der Normandie), der ihm etwas zugunsten des Königs von<br />

Schottland zu sagen schien, in schändliche Flüche aus und nannte ihn öffentlich einen Verräter. Daraufhin riss sich der König in<br />

seinem üblichen Zorn die Kappe vom Haupt, löste seinen Gürtel, warf den Mantel und die Kleider, die er getragen hatte, weit<br />

von sich, warf eigenhändig die seidene Decke vom Bett, setzte sich auf dieses wie auf einen Misthaufen und begann, die Strohhalme<br />

zu kauen.<br />

Nicht nur dieser eine Truchsess war unbeliebt. Wie uns der Tristan-Roman zeigt, in dem der verräterische<br />

Truchsess noch viel schlechter ist als Chrestiens Keu, scheint dies recht allgemein gewesen zu sein. Es wäre also<br />

falsch, nach einem bestimmten unbeliebten Truchsessen als Vorbild für Chrestiens Keu zu suchen.<br />

Diese Interpretationen haben uns hoffentlich geholfen, zu Chrestiens Erec einen besseren Zugang zu finden, als<br />

ihn die bloße Lektüre ermöglicht. In unsere Überlegungen waren zu einem guten Teil soziologische Aspekte eingeschlossen.<br />

Hier ist daher der Ort, uns zu fragen, ob das damit schon heißt, dass wir auch Literatursoziologie betrieben<br />

haben, und was Literatursoziologie eigentlich ist. KÖHLER etwa formuliert (Gattungssystem S. 113):<br />

„Der Literatursoziologie obliegt die Aufgabe, nach dem Verhältnis zwischen Gattungssystem und Gesellschaftssystem zu<br />

fragen. Sie wird dabei an einem Begriff von künstlerischer Widerspiegelung festhalten können, der diese als produktive Aneignung<br />

von Realität und deren den Aneignungsprozeß einschließende Reproduktion, d. h. als rückwirkende, im Interpretationsprozeß<br />

selbsterschaffene Wirklichkeit im Überbau versteht.“<br />

Diese ‚Widerspiegelung‘ soll mehr sein als die von KÖHLER mit Recht als „kümmerlich“ angesehene Vorstellung,<br />

dass die Dichtung die Realität einfach „abbildet“. Damit hat KÖHLER präzisiert, was er schon im Anhang der<br />

2. Auflage von ‚Ideal und Wirklichkeit‘ ausgesprochen hatte:<br />

„das Ganze der Dichtung als eine Antwort auf die Wirklichkeit, einschließlich deren konstitutiver Widersprüche, erklären.“<br />

Hinter diesem Anspruch sind wir hier mit Absicht zurückgeblieben, denn seine Verwirklichung ist nicht leicht,<br />

und ist sicher auch denen nicht leicht gefallen, die glauben, ihn in ihren Arbeiten erfüllt zu haben. Wahrscheinlich<br />

hat KÖHLER auch diese Forderung in dem Bewusstsein erhoben, dass sie eine ideale Forderung ist, und Ideale, das<br />

wissen wir schon vom Artushof, werden nie verwirklicht. Eine bescheidenere Forderung, der vielleicht der Makel<br />

des Irdischen anhaftet, die dafür aber erfüllbar sein sollte, hat Hugo KUHN gestellt: Er vermeidet den Ausdruck<br />

‚Literatursoziologie‘, und spricht nur von einer „soziologischen Dimension der Literaturwissenschaft“.<br />

„Wie die dichterischen Werke zur sozialen Realität stehen, welche soziale Realität sie selbst darstellen – das ist immer schon ein<br />

Aspekt der Prinzipienfragen der Literaturwissenschaft selbst, der Frage nach der Tatsächlichkeit ihrer Tatsachen, ist damit bereits<br />

ein Bestandteil aller bestehenden Methoden und Ergebnisse, ihrer methodischen Situation überhaupt.“<br />

Wenn wir in der literatursoziologischen Betrachtungsweise sehr oft das Individuum durch eine Gesellschaftsschicht<br />

ersetzt haben, ist das für manche Probleme von Vorteil, aber wir müssen uns dessen bewusst bleiben, dass<br />

wir der Einfachheit halber zwei Dinge gleichgesetzt haben, die es in Wirklichkeit nicht sind: wir haben dem Erzähler<br />

des Werkes ‚Erec Sohn des Lac‘ verschiedene Charakteristika wie konservativ, leicht selbstironisch usw.<br />

gegeben und diese mit der gesellschaftlichen Situation an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit in Verbindung<br />

gebracht. Aber das Individuum Chrestien de Troyes ist uns dadurch nicht fassbar geworden. Ob seine<br />

Werke, wie etwa Schiller später von seinen Räubern sagte, die Folgen eines „naturwidrigen Beischlafs der Subordination<br />

mit dem Genius“ sind 59 und die leichte Ironisierung ein Ausdruck der Distanz zwischen eigener und bestellter<br />

Meinung, oder ob er seiner eigenen Meinung Ausdruck verlieh und die Ironisierung nur Teil seines literarischen<br />

Stils ist, werden wir nie eruieren. Mangels historischer Nachrichten über den Dichter kennen wir ihn nicht als Menschen,<br />

sondern nur als literarische Figur des Erzählers seiner eigenen Werke.<br />

Damit schließt unsere Betrachtung von Chrestiens Erec. So können wir uns Hartmann zuwenden und den Fragen,<br />

die die Germanistik heute mit dem Erec verknüpft. Dabei wird uns manches vertraut vorkommen, denn nicht<br />

nur der Erec wurde aus dem Französischen ins Deutsche übertragen, sondern auch in der Forschung sind Anregungen<br />

der Romanisten (allerdings hauptsächlich der deutschsprachigen Romanisten wie KÖHLER) von den Germanisten<br />

übernommen worden. Ob die Übertragung der literatursoziologischen Betrachtungsweise KÖHLERs auf<br />

Deutschland durch seine germanistischen Jünger ebenso erfolgreich war wie das romanistische Vorbild, können wir<br />

anhand des nun zu besprechenden Hartmannschen Erec hinterfragen.<br />

58 Brief unbekannten Absenders an Thomas von Canterbury, In: Materials for the History of Thomas Becket, Archbishop of<br />

Canterbury, (Rerum Britannicarum Scriptores Bd. 67/6).<br />

59 Vgl. Klaus SCHERPE in: H. BRACKERT / J. STÜCKRATH, Literaturwissenschaft Grundkurs 2.

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