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Literaturgeschichte 750-1500

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ob größere Teile seine eigene Erfindung sind. Für unsere Einschätzung und Wertung Chrestiens ist das nicht so<br />

wichtig; er ist jedenfalls einer der größten Dichter der Weltliteratur. Interessant zu wissen wäre es aber für unsere<br />

Vorstellung vom literarischen Leben des 12. Jahrhunderts und für unsere Vorstellung von der Arbeitsweise des<br />

Dichters. Wir besitzen zwar Übersetzungen mehrerer Werke Chrestiens ins Deutsche, Norwegische und ins<br />

Kymrische binnen weniger Jahrzehnte nach Chrestien, doch etwaige Vorstufen seiner Werke haben es, wohl weil<br />

er besser erzählt hat, nicht zur Ewigkeit gebracht.<br />

Chrestien bezeichnet die kunstvolle Anordnung der Erzählung als Voraussetzung dafür, dass eine schöne<br />

Erzählung auch gefällt. Stoff und Form zählen also etwa gleich. Der Aufbau des Erec hat daher die Forschung mit<br />

Recht fast so sehr interessiert wie sein Inhalt und wir müssen bei der Interpretation beides berücksichtigen. Nicht zu<br />

vergessen ist: Auch der Titel gehört schon zum Werk, wenn er auch von den Herausgebern gering geschätzt wird,<br />

das heißt, mittelalterliche Handschriftenschreiber wie neuzeitliche Herausgeber glauben das Recht zu besitzen,<br />

Werktitel nach Gutdünken zu vergeben. Der vom Autor gewählte Titel steht, nach gutem literarischem Brauch, im<br />

Prolog:<br />

Erec Sohn des Königs Lac<br />

und nicht anders lautet er. Die Handschriften geben einen anderen Titel: Erec und Enide, und im Inneren der<br />

Erzählung ist vielleicht Enide die wichtigere Figur. Im Prolog zum Cligès, in dem Chrestien die Inhalte, nicht die<br />

Titel seiner bisherigen Werke nennt, spricht er selbst von ‚Erec und Enide‘. Doch der Titel ist Repräsentanz und<br />

der Ruhm der Erzählung nach außen, und das lässt die ideale Frau dem Mann allein zukommen: ihre Bewährung<br />

erreicht sie durch Selbstaufgabe der Person zugunsten des Mannes, und für die Person steht eben der Name. Zumindest<br />

am Anfang des Romans scheinen die Verhältnisse so zu sein. An welchem Punkt der Erzählung und unter<br />

welchen Umständen Chrestien die Namen seiner Figuren einführt, ist nie zufällig. Bei aller Hochachtung vor seinem<br />

Genie müssen wir zugeben, dass er, was wir heute vielleicht als Mangel empfinden, als Autor äußerst herrschaftsstabilisierend<br />

wirkt; nicht nur was das Verhältnis der Sozialschichten zueinander betrifft, sondern auch das<br />

Verhältnis von Mann und Frau zueinander. Dieses Prinzip scheint aber so auf die Spitze getrieben, dass man sieht,<br />

dass es von ihm selbst durchschaut und ironisiert ist. Insbesondere, dass Erec erst durch das Gesetz erzwungen<br />

Enides Namen preisgibt und wir den Namen ihres Herkunftsortes (Lalut) erst nach Beendigung der Joie de la Cort-<br />

Episode erfahren und die ‚Personalisierung‘ ihrer Eltern durch Namensnennung gar erst am Schluss erfolgt, zeigt<br />

ja, dass der nach Meinung des Erzählers richtige Zustand am Schluss hergestellt ist, also Enide eine nennenswerte<br />

Herkunft und sie und ihre Eltern Namen haben. Aber trotzdem: die Wirkung auf die Leser ging wohl weder in<br />

Richtung ‚Emanzipation der Frau‘ noch ‚Aufwertung der armen Vavassors‘. Dass Erec Enide großmütig verzeiht,<br />

nicht etwa sie um Entschuldigung bittet, wie bei Hartmann, muss nicht bedeuten, dass Chrestien der Meinung gewesen<br />

sei, Enide habe wirklich Schuld getragen. Erec wird charakterisiert, dass er dieser Meinung ist; ob das eine<br />

Ironie sein soll und wenn, ob das Publikum sie gemerkt hat, hängt davon ab, wie sehr man sich den Erzähler über<br />

seine Figuren schmunzelnd vorstellt.<br />

Dass die starken gesellschaftlichen Veränderungen des 12. Jahrhunderts von wachen Köpfen bemerkt wurden und<br />

das schnelle Wachsen der Städte und Höfe als eine Ursache erkant wurde, spiegelt sich darin, dass Gauvain darauf<br />

verweist, dass die große Zahl der Ritter bei Hof die Ausübung des alten Brauches unmöglich mache. Zur Idealität<br />

des Artushofes scheint wesentlich dazu zu gehören, dass die alten Bräuche beachtet werden. Gerade dadurch ist<br />

der Hof so berühmt geworden, dass er wuchs; dadurch änderten sich die Sozialformen; das macht die Ausübung der<br />

alten Bräuche anscheinend unmöglich. Die Wirkungen der Idealität werden also zum Problem für die Idealität. Der<br />

Artushof gerät daher vom Höhepunkt in die Krise.<br />

Die Geschichte ist, was die Motive betrifft, angefangen mit der Jagd auf den weißen Hirschen, konsequent als<br />

Märchen gestaltet, zweiteilig aufgebaut und entwickelt sich entlang des Weges, den der Held zu gehen hat. Daher<br />

nennt man diese, von Chrestien erfundene Form den ‚Doppelten Cursus‘ oder ‚Doppelweg‘.<br />

Nun zum ersten Teil des Doppelten Cursus im Erec: Die Komposition des ersten Teiles ist verschachtelt; jedes<br />

Mal wenn wir gespannt sind, wie die wohl gerade begonnene Geschichte weitergehen wird, wird sie abgebrochen<br />

und die nächste beginnt, ebenfalls ohne zu Ende geführt zu werden: Die Geschichten sind: 1. die Jagd auf den<br />

weißen Hirsch. 2. die Beleidigung durch den Zwerg 3. die ‚Arme Herberge‘ (ein Adeliger nimmt bei einem Armen<br />

Unterkunft und heiratet dessen Tochter). 4. der Sperberpreis. Jeder dieser vier Teile könnte die Fabel einer<br />

eigenen kürzeren Erzählung bilden.<br />

Die 1. Geschichte wird bis zum Beginn der eigentlichen Jagd erzählt, dann beginnt die Exposition der zweiten,<br />

ohne dass wir zunächst merken, wie wir von der ersten weggeführt werden, und sobald durch die Geißelschläge<br />

hier die Spannung aufgebaut ist, verfolgen wir Erec nicht weiter, sondern kehren zurück an den Artushof zur 1.<br />

Geschichte, die aber nicht zu Ende geführt werden kann und schließlich vom Ende von 2 abhängig gemacht wird.<br />

Dann springt die Erzählung zu 2 zurück. Deren Weiterführung (Verfolgung des fremden Ritters) mündet in die<br />

Exposition von 3: Erec beim armen Vavassor und seiner Tochter. Sowie wir erfahren haben, dass das Mädchen<br />

noch frei ist, warten wir auf die Entwicklung der Liebesgeschichte. Doch die wird hinausgezögert: Inzwischen<br />

erzählt der Vavassor vom Sperberpreis; die 4. Geschichte hat begonnen. Jetzt sind alle Geschichten eingeleitet. Von<br />

nun an wird die Lösung jeder Geschichte mit Hilfe der anderen eingefädelt: Zuerst erfahren wir, dass der Herausforderer<br />

im Kampf um den Sperberpreis der Gegner aus Geschichte 2 ist; die beiden Geschichten 2 und 4 sind damit<br />

zu einer Geschichte ‚2+4‘ zusammengeführt. Zur Demütigung des Herausforderers ist der Besitz einer schö-

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