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Literaturgeschichte 750-1500

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Ez ist frouwen ê geschehen<br />

âne ir willen, sunder danc,<br />

daz der lieben und der wolgetânen dô geschach.<br />

Hiete si den grif gesehen,<br />

si ist ir lîbes niht sô kranc,<br />

er enhiet sîne buoze enpfangen, des si sît verjach.<br />

Sneller danne ein bolz<br />

was sîn liep, ir leit ergangen:<br />

immer mêre was der dörper sînes herzen stolz.<br />

Dô enkunde an den stunden niht vollangen.<br />

Die unwæge rihte uns beiden der von knüttelholz!<br />

bolze ‚Pfeil‘; wæge ‚angemessen‘, un-wæge ‚unangemessenes Benehmen‘.<br />

Es ist Frauen öfters geschehen, gegen ihren Willen und ohne ihren Dank, was der Lieben und Schönen da geschah. 31 Hätte sie<br />

den Griff gesehen, sie ist körperlich nicht so schwach, so hätte er seinen Lohn nicht erhalten, wie sie später erzählte. Schneller<br />

als ein Pfeil war ihm lieb, ihr leid geschehen. Immer stolzer wurde der Bauernlümmel davon. Doch konnte er damals nicht zu<br />

seinem letzten Ziel gelangen. Den Streit zwischen uns soll Herr vHolzknüttel entscheiden!<br />

Wann Neidhart erstmals auftrat, befragen wir am besten den Dichter, der seine Kollegen am schärfsten zu verspotten<br />

pflegte, nämlich Wolfram. Im 6. Buch des Willehalm (312,11 ff.) ätzt Wolfram, als der noch ungeschickte,<br />

aber bärenstarke Rennewart erstmals sein großes Schwert (es ist breiter als die Dechsscheiter 32 in Nördlingen:<br />

295,16) zur Seite trägt und sich gerüstet zum Essen auf den Boden setzt, so dass es gefährlich von ihm wegsteht:<br />

Man muoz des sînem swerte jehen,<br />

het ez hêr Nîthart gesehen<br />

über sînen geubühel tragen,<br />

er begunde ez sînen friunden klagen.<br />

Man muß seinem Schwert Folgendes zugestehen: Wenn Herr Neidhart es über seinen Hofhügel hätte tragen sehen, hätte er es<br />

gleich (‚begonnen zu‘) seinen Freunden geklagt.<br />

Da Wolfram im 8. Buch des Willehalm Hermann von Thüringen als verstorben erwähnt (gest. 1217), muss<br />

Neidhart vor 1215 schon mit seinen unhöfischen ‚Winterliedern‘ hervorgetreten sein, zumindest einigen frühen (das<br />

breite Schwert kommt schon Winterlied 4 vor, die Klage vor den Freunden und das Flachsbrechen Winterlied 8).<br />

Um diese Zeit also wandte Walther sich gegen den, der sich bei Stolle beklagt. Wer war Stolle nun? Wohl nicht ein<br />

Dichterkollege, wie manche vermuten, sondern eher eine Figur Neidharts. Ob der Name aus einem verlorenen Lied<br />

des Konkurrenten stammt oder von Walther erfunden wurde oder gar der Spitzname eines wirklichen ‚Freundes‘<br />

Neidharts war, ist dabei gleichgültig. Wichtig ist die Frage, ob Walthers Entschluss, sich in Österreich, vor Leopold,<br />

zu beklagen, daher rührt, dass Neidhart eben dort sang, und ze hove in Wien die unhöfischen Lieder besser<br />

ankamen als die Walthers, oder daher, dass eben der Wiener Hof im Vergleich zu anderen Höfen noch am ehesten<br />

von diesen Tönen verschont war (etwa im Gegensatz zu Bayern – siehe oben S. 45: Nördlinger Dechsscheiter –, wo<br />

man Neidharts Frühzeit ansetzt).<br />

Zwischen Walther und Neidhart gingen anscheinend einige böse Worte hin und her; so parodierte Neidhart offensichtlich<br />

Walther im Winterlied 32, Strophe 6:<br />

Von hinne unz an den Rîn,<br />

von der Elbe unz an den Pfât,<br />

diu lant sint mir elliu kunt:<br />

diu enhabent niht sô manegen hiuzen dorefman,<br />

als ein kreizelîn<br />

wol in Ôsterrîche hât;<br />

da ist inne manic niuwer funt.<br />

Seht, daz brüevet einer, der mir lützel guotes gan!<br />

Wankelbolt,<br />

selten holt<br />

was er mir mit triuwen.<br />

Er ist scharemeister in dem Lugetal:<br />

daz mac jenen gouch vil wol geriuwen.<br />

Kumt er mir ze râme, ich dürkel im die hirenschal.<br />

hiuze ‚frech‘; râm ‚Schmutz (insbesondere unter der Rüstung des Ritters)‘; dürkeln ‚durchlöchern‘; geriuwen = riuwen.<br />

Von hier bis an den Rhein und von der Elbe bis an den Po kenne ich alle Lande. In denen allen zusammen gibt es nicht so viele<br />

freche Dorfleute wie in einem einzigen kleinen Kreis in Österreich; dort lernt man immer etwas Neues kennen. Seht, dort ver-<br />

45<br />

31 Literarische Verarbeitung des Themas ‚Gewalt gegen Frauen‘ begegnet uns in dieser Epoche mehrfach, z. B. bei Wolfram<br />

(Parzival 525,12ff.).<br />

32 Werkzeug zum Flachsbrechen.

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