Literaturgeschichte 750-1500
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und der Ehre willen – ein tieferer Sinn ist dem Turnierwesen fremd. Die Kritik an der mangelhaften Sinnbegründung<br />
des Turnierwesens ist eigentlich allen Turnierschilderungen bei Hartmann, Wolfram, Gottfried<br />
und im Nibelungenlied eigen, auch wenn sie meist nicht direkt ausgesprochen, sondern nur an der Wortwahl der<br />
Turnierschilderungen erkenntlich ist. Kaylet nennt Gahmuret die Namen der vielen Ritter aus fernen Ländern, die<br />
zu diesem Turnier angereist sind: allen voran Utrepandragûn, den Vater von Artus, sodann König Lôt von Norwegen,<br />
den Schwager von Artus. Artus selbst nimmt nicht teil, weil Utrepandragûns Frau, Artus‘ Mutter, von einem<br />
zauberkundigen Pfaffen entführt wurde. Artus ist dem Räuber nachgerannt (allerdings ohne Erfolg. Auch der<br />
Leser erfährt erst viel später, dass der Zauberer Clinschor, Herr von Schastelmarveil, der Entführer ist). König Lot<br />
von Norwegen hat sein kleines Söhnlein Gâwân mit; der ist zwar noch zu klein und schwach, einen Speer brechen<br />
zu können, aber er sagt schon, dass er einmal gerne Ritter werden möchte (dadurch ist, ohne dass Wolfram Zahlenangaben<br />
setzen müßte, das Altersverhältnis zwischen Gawan und Parzival festgelegt).<br />
Betrachten wir die Altersklassen der Versammelten: Durch Einschübe dieser Art verrät uns Wolfram das ungefähre<br />
Alter seiner Helden. Wenn Gahmuret âne bart genannt wurde, kann er nicht viel mehr als 16 Jahre alt sein.<br />
Da er nicht ganz ein Jahr in Zazamanc verweilte und vorher noch im Dienste des Baruc gestanden war, so war er<br />
mit vielleicht vierzehn von zu Hause fortgezogen. Wenn Parzival zwei Jahre nach dem Turnier von Kanvoleis geboren<br />
wird, ist er etwa sechs Jahre jünger als Gâwân. Artus kann noch nicht alt sein, da sein Vater Utepandragûn<br />
noch beim Turnier aktiv mitkämpft und seine Mutter am Ende der Haupthandlung des Werkes, etwa 18 Jahre nach<br />
diesem Turnier, noch recht rüstig erscheint. Das ‚Nachrennen‘ deutet auch auf jugendlichen Ungestüm. Die Altersklassen<br />
sind also im Rittertum nicht voneinander geschieden; Alt und Jung ist hier versammelt. Der Trennung nach<br />
Stand und Geschlecht entspricht keine Absonderung der jugendlichen Krieger. In der vesperîe, dem freien Geplänkel<br />
am Vortag des von Herzeloyde festgesetzten Turniers, treten bunt gemischt Alte gegen Junge an. Doch<br />
darf das Alter immerhin mit Ehrfurcht rechnen, wenn auch manchmal ironisch (74,5):<br />
Dô stach der künec von Arragûn<br />
Da stach der König von Aragonien<br />
den alten Utepandragûn<br />
den alten Uther Pendragon,<br />
hinderz ors ûf die plâne,<br />
den König von Britannien,<br />
den künec von Bertâne.<br />
hinters Roß auf die Ebene.<br />
Ez stuont dâ bluomen vil umb in.<br />
Da standen viele Blumen um ihn.<br />
Wê wie gefüege ich doch pin,<br />
Weh, so steht es um meinen Anstand,<br />
daz ich den werden Berteneis<br />
dass ich den würdigen Briten<br />
sô schône lege für Kanvoleis,<br />
so schön vor Kanvoleis niederlege,<br />
dâ nie getrat vilânes fuoz<br />
auf eine Stelle, wohin nie der Fuß eines Bauern trat<br />
(ob ichz iu rehte sagen muoz)<br />
(darauf weise ich euch eigens hin),<br />
noch lîhte nimmer dâ geschiht.<br />
und vielleicht nie hintreten wird.<br />
Ern dorfte sîn besezzen niht<br />
Doch gelang es ihm nicht,<br />
ûf dem orse aldâ er saz.<br />
auf dem Pferde sitzenzubleiben.<br />
Utepandragûn, kymrisch (die Sprache von Wales) Uther pen dragon (pen ‚Haupt‘, dragon ‚Drache‘, also ‚Uther Drachenhaupt‘,<br />
der Vater von König Artus in den kymrischen Sagen; plâne ‚Ebene‘; Bertâne ‚Britannien‘; gefüege zu vuoge ‚Anstand‘;<br />
vilân ‚Mensch niedrigen Standes‘, meist ‚Bauer‘ (französisch; zu lat. vilis ‚gering, niedrigen Standes‘, neufranz. ‚Schuft,<br />
Schurke‘); ob ‚wenn‘; ichz = ich ez; ‚wenn ich es euch richtig sagen muss‘ = ‚falls ihr diese Erklärung nötig haben solltet‘; ern<br />
dorfte = er endorfte ‚er durfte nicht‘; besezzen sîn ‚sitzen bleiben‘; ors ‚Roß‘.<br />
Dass Uther Pendragon vom Pferd fiel, entehrt ihn also weniger, als es ihn entehrt hätte, wenn er dabei auf eine<br />
Stelle gefallen wäre, auf die schon einmal ein Bauer getreten hatte. Das Hierarchiedenken wird dadurch karikiert,<br />
dass es auf die Spitze getrieben wird.<br />
Die strenge Trennung Herr – Gefolgschaft wird humoristisch bis in die Wappen durchgeführt, wenn der König<br />
der Gascogne den Vorderteil des Greifen, sein Gefolge den Greifenschwanz als Feldzeichen führt (72,17):<br />
Gelîcher baniere Vier gleiche Fahnen<br />
man gein im fuorte viere führte man gegen ihn<br />
(küene rotten riten drunde: (unter denen ritten kühne Scharen –<br />
ir hêrre strîten kunde), ihr Herr verstand sich aufs Kämpfen),<br />
an ieslîcher eins grîfen zagel. an jeder der Schwanz eines Greifen.<br />
Daz hinder teil was ouch ein hagel Auch der Hinterteil warf wie ein Hagelschauer<br />
an rîterschaft: des wâren die. die Ritter zu Boden – soweit mit diesen.<br />
Daz vorder teil des grîfen hie Das Vorderteil des Greifen, anderseits,<br />
der künec von Gascône truoc trug der König der Gascogne<br />
ûf sîme schilt, ein rîter kluoc. auf seinem Schild, ein tüchtiger Ritter.<br />
baniere ‚Banner, Fahne‘; rotte ‚Rotte, Gruppe von Kriegern‘; zagel ‚Schwanz‘; ein hagel an rîterschaft ‚ein Hagel an der Ritterschaft‘;<br />
kluoc ‚klug‘.<br />
Die ritterliche Gesellschaft ist einerseits durch die Ideale der Ritterkultur geeint – ‚Ritter‘ nennen sich der Herr<br />
und die Gefolgschaft gleicherweise –, und jeder Mensch am Hof kann sich ihr teilhaftig fühlen, anderseits getrennt<br />
durch den deutlichen Standesunterschied zwischen Hochadel und niedrigem Adel. Das Wappentier ist einem<br />
Herrn und seiner Gefolgschaft gemeinsam, aber es ist in Vorder- und Hinterteil zertrennt. Einerseits, kann man<br />
sagen, übt Wolfram Sozialkritik (würden wir heute sagen), wenn er diese Trennung diagnostiziert, und spricht auch<br />
dem Hinterteil Tapferkeit und kriegerische Leistung zu, anderseits werden doch nur die Herren individualisiert und