Literaturgeschichte 750-1500
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nicht.‘ ‚Du wirst sie schon noch kennenlernen.‘ ‚Wenn Ihr es erwarten könnt, ich kann gerne noch darauf warten.‘ ‚Vielleicht<br />
erlebe ich noch den Tag, wo du minnst, ohne dass man dich darum bittet. Wenn du damit beginnst, so wird es dir sehr lieb.‘ ‚Ich<br />
weiß nicht, Frau Mutter, ob das so wird.‘ ‚Des kannst du gewiss sein.‘ ‚So sagt mir doch, was Minne ist.‘ ‚Ich kann es dir nicht<br />
beschreiben.‘ ‚Dann sollt Ihr es bleiben lassen.‘ Da sprach die Königin: ‚Die Minne ist so beschaffen, dass es niemand dem<br />
andern genau beschreiben kann, in dessen Herz sie nicht hineingeht, und der so wie ein Stein lebt. Wer aber richtig ihrer innewird,<br />
und sich an sie wendet, den lehrt sie viel, was er vorher nicht wusste. Sie verwundet ihn, es sei Mann oder Frau, und<br />
ergreift ihm Leib und Sinne, und trübt seine Farbe mit Gewalt. Sie macht ihm oft kalt und gleich darauf heiß, dass er sich<br />
nicht helfen kann. Ihre Waffen sind: Sie raubt ihm den Schlaf, Essen und Trinken. Sie lehrt ihn traurige Gedanken. Niemand<br />
ist so mächtig, dass er sich ihrer wehren kann, oder sein Herz vor ihr retten. Nun habe ich davon so viel gesprochen wie schon<br />
lange nicht mehr.‘ ‚Frau Mutter, ist denn Liebe etwas Unangenehmes?‘ ‚Nein, aber beinahe.‘ ‚Ich glaube, sie ist stärker als die<br />
Sucht oder das Fieber. Die wären mir beide lieber, denn man schwitzt sie aus und wird wieder gesund. Aber Minne macht mehr<br />
kalt und heiß als ein viertägiges Fieber.‘ ‚Wer in sie verstrickt wird, der muss das alles auf sich nehmen.‘ ‚Dann möge Gott sie<br />
mir verbieten.‘ ‚Nein, denn sie ist sehr gut.‘ ‚Was heißt das dann, dass sie weh tut?‘ ‚Ihre Schmerzen sind süß.‘ ‚Gott gebe, dass<br />
sie mir fern bleibt, wie könnte ich diese Not ertragen?‘ Die Mutter: ‚Fürchte nicht das Ungemach, merke dir: Viel Liebes kommt<br />
von dem Leid, Ruhe kommt nach dem Unangenehmen. Das ist ein guter Trost. Das Angenehme kommt von beständiger Mühe.<br />
Von Schmerz kommt Wonne und vielerlei Freude. Trauern führt zu Frohsinn, und für die Angst wird man beizeiten entschädigt.<br />
Das Zeichen der Minne ist: Nach der bleichen Farbe kehrt die gute Farbe zurück, die Furcht weicht gutem Trost, durch das<br />
Dulden wird man erlöst, das Entbehren macht das Herz reich. Für jedes dieser Dinge bringt die Minne Entschädigung. ... Du<br />
hast wohl oft gesehen, wie der Herr Amor im Tempel steht, innen bei der Türe, das bezeichnet die Minne, die über alle Lande<br />
herrscht. Eine Büchse hat er in der Hand, in der anderen zwei Speere. Mit denen schießt er sehr heftig. Ein Speer ist von Gold,<br />
den benutzt er normalerweise. ... Der andere ist aus Blei. Wer mit dem verwundet wird, der ist der Minne immer ungehorsam<br />
und er hasst sie. Den gelüstet nicht nach Minne! ... Die Büchse bezeichnet die Salbe, die die Minne immer bereit hat. Die lindert<br />
die Mühsal und heilt jeden, den die Minne verletzt. Sie teilt nach dem Leid Liebe aus. Merk dir, dass von beidem die Minne viel<br />
bringt. Du bist aber nicht mehr so dumm, wie du dich anstellst. 45 Wenn du zwei Jahre jünger wärest als du bist, wärest du nicht<br />
zu jung, es zu lernen ... Deswegen minne Turnus, den edlen Fürsten.‘ ‚Ich will und kann nicht.‘ ... ‚Wenn ich aber merken sollte,<br />
dass du den Eneas lieben willst und uns so entehrst, dass du dein Herz an den bösen Trojaner wendest, dann lasse ich dich totschlagen<br />
und martern, bevor du ihn heiratest. Er soll dich nie besitzen.‘ ‚Das könnt ihr mir leicht verbieten, ich habe keine Absicht<br />
dazu.‘<br />
Inzwischen kam Eneas, seinem potentiellen Schwiegervater einen Besuch abzustatten. Lavine sah neugierig aus dem Fenster<br />
und betrachtete den liebreizenden Trojaner. Er hielt vor dem Burggraben eine Zeit an, inzwischen konnte sie ihn betrachten. Als<br />
das hübsche Mädchen ihre Augen auf ihn heftete, schoss Venus mit einem scharfen Pfeil auf sie. Die Liebe brachte ihr Schmerzen,<br />
weil sie die Huld ihrer Mutter verlor, und ihre Zeichen stellten sich ein (alle medizinischen Symptome, die wir von Dido<br />
kennen): Schwitzen, Zittern, sie wurde blass und wieder rot. ‚Ich fürchte, dass das der Kummer ist, den mir meine Mutter geschildert<br />
hat. Ich fürchte, er ist zu früh über mich gekommen.‘ Sie konnte Eneas nicht vergessen, doch schmerzte sie, dass er<br />
nur ihren Vater besucht hatte, sie selbst hatte er ja noch gar nie gesehen und er wusste ja auch nicht, dass sie ihn vom Fenster<br />
aus betrachtete. Wer weiß, ob er sie auch lieben wird? So litt sie Liebespein und haderte mit der Minne, der Quälerin, und mit<br />
Amor. Sie bat Venus um die Salbe, die den Liebesschmerz heilt. Zu allem Unglück war ihre Mutter eine kluge Frau und merkte<br />
die Veränderung an ihrer Tochter und erriet ihr Geheimnis. Um sie abzuschrecken, erzählte ihr die Mutter, Eneas liebe keine<br />
Frauen, sondern habe nur mit Männern Umgang. Lavine weinte, in der Nacht konnte sie nicht schlafen. Da entschloss sie sich,<br />
in schönem Latein einen Brief an Eneas zu schreiben: ‚Lavine entbietet dem mächtigen Eneas innig ihren Dienst, der ist ihr<br />
mehr wert als alle anderen Männer, und sie gönnt ihm mehr Gutes, als allen, die sie je gesehen hat, und sie kann ihn nie vergessen.<br />
Und sie entbietet ihm, dass er dessen sicher sein soll und dass er an das denken soll, was die Minne tut.‘ Dann suchte sie,<br />
bis sie irgendwo einen Pfeil fand. Sie band den Brief an den Pfeilschaft. Als Eneas am nächsten Tag wieder auf die Burg zugeritten<br />
kam, überredete sie einen Pagen, den Pfeil dem Trojaner vor die Füße zu schießen. Eneas fand den Brief am Pfeil, las ihn<br />
und schaute freundlich zu ihrem Fenster hinauf. Er verneigte sich vor ihr, und ritt näher an das Fenster heran, dass er ihr Gesicht<br />
sehen konnte. Als er ihre Augen und ihren Mund betrachtete, schoss ihm Amor mit dem goldenen Speer eine schwere Wunde,<br />
und Venus, seine Mutter, schuf, dass ihm das Mädchen lieb wurde wie sein eigenes Leben. Lange betrachtete er sie, schließlich<br />
musste er zurückreiten. In seinem Zelt angekommen, konnte er nichts essen, in der Nacht konnte auch er nicht schlafen und<br />
beschuldigte die Liebe, dass sie ihn so schwächte, wo er den Zweikampf gegen Turnus bestehen sollte, dann wieder erkannte er,<br />
dass gerade sie ihm Kraft gab, Turnus zu besiegen. Er führte lange Selbstgespräche und richtete ein langes Gebet an die Minne.<br />
Darüber verging die Nacht, und erst morgens fand er Schlaf. In der Früh wartete Lavine vergeblich auf sein Erscheinen; schließlich<br />
zeigte er sich doch. Seine Begleiter merkten, dass er immer unter dem selben Fenster stand, und verspotteten ihn. Endlich<br />
kam der Tag des Zweikampfes. Da der König Friede befohlen hatte, kam Eneas noch ungerüstet auf den Platz. Da brach ein<br />
Soldat des Turnus den Frieden und tötete einen Trojaner. Eneas half den Seinen ungerüstet, wie er war, und wurde durch einen<br />
vergifteten Pfeil verwundet. Doch ein Arzt operierte ihn so geschickt, dass er zum Zweikampf antreten konnte. Lavine dachte zu<br />
spät, was sie ihm alles für Kleinode hätte schenken können, die ihn im Kampf stärken könnten: ihr Haarband hätte sie ihm<br />
schicken können, damit er es am Helm trüge und es ihn schütze. Oder ihren Schleier, den er um seinen Speerschaft knoten<br />
könne, das würde den Speer fester machen und ihm Kraft geben. Oder einen Ärmel von ihrem Kleid hätte sie ihm geben können,<br />
wenn er den am Arm trüge, würde seine Kraft so wachsen, dass Turnus ihm nichts tun könne. 46 Oder ihren Ring, oder ihren<br />
Gürtel... Wenn er besiegt würde, müsste sie Selbstmord begehen. Doch, dachte sie richtig, ‚er hat meinen Brief erhalten, und der<br />
muss ihn siebenmal so stark machen.‘ Sie hatte damit Recht, und Eneas besiegte Turnus. Nach dessen Tod erinnerte Eneas den<br />
König an seinen Eid und bat ihn um Lavines Hand. Doch riet beider Gefolge, dass die Hochzeit erst in zwei Wochen sein solle,<br />
damit man in Ehre alles vorbereiten könne. Dann trennten sich die Heere. Lavine vernahm den Ausgang des Kampfes, doch war<br />
55<br />
45 Dass Lavine einerseits tatsächlich unschuldig-unerfahren ist, anderseits aber sich klugerweise absichtlich noch dümmer stellt,<br />
verleiht nicht nur der Figur einen besonderen Reiz und eine besondere Lebendigkeit, sondern gibt auch dem Dichter Gelegenheit,<br />
eine komplette „Minnelehre“ zu liefern, ohne langweilig zu werden. Diese Szene ist jedenfalls seine Meisterleistung.<br />
46 Die mittela. Ärmel waren nicht am Kleid festgenäht, sondern nur angebunden.