Literaturgeschichte 750-1500
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TRISTAN-DICHTUNGEN<br />
VORHÖFISCHE TRISTAN-DICHTUNG<br />
Wir befinden uns in der keltischen Sagenwelt. Der Hof König Markes liegt in Cornwall, das Bretonische<br />
unterschied sich im 12. Jh. noch kaum vom Cornischen, die Erzählungen waren auf beiden Seiten des Kanals<br />
verständlich. 73 Die Tristansage spielt auch beiderseits des Kanals.<br />
Auf die nicht erhaltenen Vorstufen der Tristansage soll hier nicht eingegangen werden. In die hohe Literatur<br />
hatte sie schon vor dem ersten höfischen Roman Einzug gehalten, denn Chrestien de Troyes nimmt schon im Erec<br />
auf sie Bezug – negativ, indem er die Unschuld seiner Heldin Enide preist und Isoldes Betrügereien tadelt. Wir<br />
besitzen von zwei frühen altfranzösischen Tristan-Dichtungen Fragmente, und zwar etwa 3.000 Verse des Tristan-<br />
Romans des Thomas von der Bretagne (um 1180 oder auch viel früher), und etwa 4.000 Verse eines gewissen<br />
Berol (sprich: [berúl]). Der Thomas-Tristan ist uns durch den Tristan Gottfrieds von Straßburg, der angibt, den<br />
Handlungsverlauf (aber nicht den Sinn!) Thomas zu entnehmen, und durch eine altnorwegische Übersetzung bekannt;<br />
wir können daher den Handlungsfaden der verlorenen Teile rekonstruieren. Vom Berol-Tristan (im Original<br />
immer: Tristran) besitzen wir über das erhaltene Fragment hinaus kein weiteres Zeugnis; es beginnt im „belauschten<br />
Stelldichein“ und endet bald nach dem Gottesurteil. Aus Rückblenden in der Erzählung erfahren wir, dass<br />
Berol auch den Zweikampf Tristrans mit Isoldes Onkel Morold kennt. Im Mittelhochdeutschen besitzen wir vor<br />
Gottfrieds Tristan den Tristrant des Eilhart von Oberg, der am ehesten mit dem Berol-Tristran verwandt ist. An<br />
einer Stelle, an der Berol angibt, von seiner Quelle abgewichen zu sein, berichtet Eilhart so, wie Berol es als<br />
„falsch“ kritisiert: Tristran, sagt Berol, sei nicht so unhöfisch gewesen, Aussätzige zu erschlagen, er habe sie nur<br />
verjagt. Bei Eilhart läßt Tristrant seinen Zorn an den Aussätzigen aus und erschlägt sie. Das heißt, Eilharts<br />
Tristrant ist mit Berols Quelle näher verwandt als mit dem Berol-Tristran. Das beweist aber nicht, dass er deswegen<br />
auch älter sein muss. Er kann auch eine jüngere Bearbeitung einer „Schwester“-Überlieferung sein. Von der<br />
Tristan-Geschichte, wie sie die Spielleute mündlich vortrugen, der Estoire, die uns nicht erhalten ist, weicht auch<br />
Eilhart sicher schon ziemlich ab. In seinem letzten Drittel entfernt sich der Berol-Tristran stärker von Eilhart, es<br />
findet sich auch keine Selbstnennung des Dichters Berol mehr. Zwingende Gründe, zwei verschiedene Verfasser für<br />
das „Berol“-Fragment anzunehmen, gibt es aber nicht. Die Datierungen der altfranz. Epen sind sehr unsicher: die<br />
Entstehung des Berol-Tristan wird in den <strong>Literaturgeschichte</strong>n mit 1190 angegeben; zu dieser Datierung verhilft<br />
aber nur eine Textkonjektur, die auf ganz schwachen Füßen steht. 74 Da der Thomas-Tristan und der Berol-Tristan<br />
nicht direkt voneinander abhängen, sondern aus verschiedenen Zweigen der Tristan-Überlieferung stammen, läßt<br />
sich nicht durch Motivvergleich feststellen, welcher der ältere ist.<br />
Eilhart von Oberg, Tristrant und Isalde<br />
Für Eilharts Tristrant trifft dasselbe zu wie für den Berol- und den Thomas-Tristan: seine Entstehungszeit kann<br />
weder absolut noch relativ zu den anderen Fassungen des Stoffes bestimmt werden; auch nicht relativ zu anderen<br />
Romanen in deutscher Sprache, wie Heinrichs von Veldeke Eneide. Er ist vom Motivinventar her die altertümlichste<br />
aller Tristandichtungen, auch im Vergleich zu den französischen Werken, doch kann das eine „konservative“<br />
Gestaltung oder eine alte Vorlage zur Ursache haben und beweist nicht, dass das Werk schon um 1170<br />
entstanden sein muss. Wenn man nicht die Unreinheit der Reime als Beweismittel für frühe Entstehung sieht, kann<br />
man vom sprachlichen Standpunkt auch fast bis 1200 hinaufgehen. Modern war die Liebeskonzeption des Eilhart-<br />
Tristrant aber am ehesten in den siebziger Jahren, etwa zu der Zeit, als der Hauptteil der Eneide entstand.<br />
Die für uns relevanten Teile der Handlung (H 47 ff., hier nach D): 75<br />
Einleitung und Vorgeschichte:<br />
Vornemet recht, alz ich uch sage<br />
Beide von vroude und von clage<br />
Einer rede, daz ny kein man<br />
Besserer rede ny gewan<br />
Hört, ich erzähle euch<br />
von Freude und (beide ... unde = ‚sowohl ... als auch‘) Leid,<br />
eine Geschichte (rede), wie noch nie jemand (kein = ‚irgendein‘)<br />
eine bessere gehört (gewinnen hier wohl am ehesten im Sinn von ‚[zu<br />
hören] bekommen‘) hat<br />
73 Das Bretonische ist keine alte festlandkeltische Sprache, sondern durch Zuwanderer aus Cornwall in die Bretagne gebracht.<br />
74 Drei Feinde Tristans, die ihn an Marke verraten haben, stecken in einem Sumpf. Tristan ist als Aussätziger verkleidet; einer<br />
der drei bittet ihn, ihn aus dem Sumpf zu ziehen. Tristan reicht ihm listig einen Stock, läßt dann aus, dass der Verräter noch<br />
tiefer versinkt, und der unerkannte „Aussätzige“ beklagt, dass seine Hände durch mal dag e s entstellt und geschwächt sind – so<br />
die Handschrift; e gilt als Kürzel für re. Mal d’ agres ist ein Krankheitsname, mit dem man nichts anzufangen wußte, man hat<br />
daher konjiziert: mal d’ Acres – Krankheit von Akkon, wo 1190/91 ein Kreuzheer von einer Seuche befallen wurde. Doch hatte<br />
die Kreuzfahrerseuche nichts mit den Händen zu tun, hingegen heißen die Extremitäten auf griech. akra; mal d’ agres könnte<br />
medizinischer Fachausdruck für „Krankheit der Extremitäten“ sein (das Wort ist noch heute in Krankheitsnamen wie Pod-agra<br />
„Gicht“ lebendig); dann ist jeder Anhaltspunkt für eine Datierung verloren. Ähnlich windig sind die Datierungen vieler Werke.<br />
75 Im folgenden halte ich mich, was die Entscheidung zwischen den Fassungen H und D betrifft, meist an Buschinger/Spiewok,<br />
von denen ich auch Teile der Übersetzung übernehme.