Literaturgeschichte 750-1500
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in vollem Bewusstsein, dass er ‚jemand‘ ist: zum Ausritt zu Beginn des zweiten Teils lässt er seinen Teppich mit<br />
dem Leopardenwappen holen und setzt sich darauf, während er sich zur Ausfahrt rüstet. Trotz der hohen Meinung,<br />
die Erec von sich selbst hat, wird sein Mangel von Chrestien als der größere erachtet, denn Erecs Bewährungsweg<br />
dauert länger als der Enides. Sie erhält das außerordentliche Pferd von Guiverets Schwestern schon bevor Erec<br />
noch sein Bestätigungsabenteuer bestanden hat. Mit einem schlechten Charakter zeichnet Chrestien Erec nicht;<br />
sonst wäre es ja unglaubwürdig, dass er dann zu solchen Leistungen fähig wird. Chrestien lässt Erec das Angebot<br />
des Vavassors, bei ihm übernachten zu dürfen, auch dann nicht ausschlagen, als ihm der Graf die Übernachtung auf<br />
der Burg anbietet. Erec schämt sich also nicht wirklich seiner armen Schwiegereltern; er weiß, dass innerer Adel<br />
mehr wert ist als Herkunft und Reichtum. Sein Charakter ist also nicht schlecht, aber ihm fehlen noch wichtige<br />
Einsichten, die er braucht, um sich richtig verhalten zu können. Er muss zwei Dinge tun. Erstens lernen, was Liebe<br />
ist, und wie man die Gefahr, dass sie einen der Gesellschaft entzieht, vermeidet, und zweitens der Gesellschaft<br />
zeigen, dass er das gelernt hat, damit er von ihr die ihm zustehende Ehre erfährt. Daher ist das Bestätigungsabenteuer,<br />
die Joie de la Cort, in der Erec nichts mehr lernen muss, sondern zeigen, dass er erfolgreich gelernt hat, so<br />
wichtig. Die höfische Gesellschaft sucht Freude als ihren höchsten Wert, und Freude ist ohne Liebe nicht möglich.<br />
Doch wenn die Liebe den Einzelnen der Gesellschaft entzieht, ist die Gesellschaft verarmt und ihre Freude unmöglich.<br />
Ehre ist die Wertschätzung, die dem Individuum durch die Gesellschaft tatsächlich zuteil wird; wenn sich jemand<br />
ehrenwert verhält, aber die Gesellschaft erkennt es nicht, so lebt er trotzdem in Schande, und wenn jemand<br />
unehrenhaft handelt, aber die Gesellschaft erkennt es nicht, so wird ihm trotzdem Ehre zuteil. Dass Übereinstimmung<br />
besteht zwischen der Norm, die das Individuum für sich selbst anerkennt, und der Norm, die die Gesellschaft<br />
für das Individuum setzt, und dass dies auch der Gesellschaft bekannt gemacht wurde, ermöglicht, dass das Fest<br />
abgehalten wird, das den Zustand der Freude versinnbildlicht. Dass auch am Schluss des Werkes ein Fest steht,<br />
und zwar das größte, zeigt, dass dann auch der Erzähler der Meinung ist, das Problem sei endgültig gelöst. Das<br />
Festessen erscheint Chrestien zwar im Detail unwichtig, aber prinzipiell so wichtig, dass er es an den krönenden<br />
Abschluss des Romans stellt.<br />
Der Aufbau des zweiten Teils des Doppelten Cursus unterscheidet sich grundlegend: Alle Abenteuer finden<br />
einzeln und nacheinander entlang des Weges von Erec und Enide statt. Trotzdem folgen sie nicht beliebig aufeinander,<br />
sondern folgen einerseits dem Prinzip der Steigerung, anderseits in einer für das Gefüge des Gesamtwerks<br />
bedeutsamen Anordnung von Doppelungen (Räuberabenteuer), Spiegelungen (zwei Grafen wollen Enide heiraten)<br />
und Entsprechungen (Zwischeneinkehr am Artushof : Schlusseinkehr). Die Episoden stellen an sich völlig selbständige<br />
Erzählungen dar (z. B.: Befreiung einer Jungfrau und eines Ritters aus der Gewalt zweier Räuber usw.).<br />
Doch ihre Einbettung verweist darauf, dass die gesamte Handlungskette einen eigenen Zusammenhang hat (im<br />
Beispiel: als Folgen des Kampfes brechen alte Wunden auf). Da aus den genannten Gründen die Aventüren nicht<br />
beliebig in ihrer Reihenfolge verändert werden könnten, so wie man die Glieder einer Kette nicht einfach vertauschen<br />
kann, ohne sie zu zerlegen, spricht man von einer Aventürenkette, nicht etwa von einer Reihe. Von Aufreihung<br />
von Episoden spricht man bei Werken, deren Struktur so angelegt ist, dass man (z. B. beim Vorlesen) ohne<br />
Schaden eine Episode weglassen oder anders einreihen könnte. Im 2. Teil des Erec sprechen wir daher von Verkettung,<br />
so wie wir im 1. Teil von Verschachtelung gesprochen hatten.<br />
Den Grund für den Beginn dieser Aventürenkette liefert die Exposition des zweiten Teils, und zwar aus unterschiedlicher<br />
Erzählperspektive: 1. durch den Erzähler, 2. die Meinung der Gefolgsleute, 3. die Meinung Enides<br />
und 4. die Meinung und der Entschluss Erecs.<br />
Der Erzähler schildert die große Liebe Erecs zu Enide, kommentiert hier aber nicht. Die Gefolgsleute sagen<br />
ihre Meinung: Erec vernachlässigt die ritterlichen Übungen, weil er Enide zu sehr liebt. Enide sagt Erec, sie sei<br />
daran schuld, hätten die Gefolgsleute gesagt, weil sie Erec so in ihren Bann geschlagen habe, und sie selbst teilt<br />
diese Meinung. Erec gibt ihr Recht und handelt danach. Enide nimmt also wie selbstverständlich eine Schuld auf<br />
sich und Erec akzeptiert dies ohne weiteres. Eine Parallele: Bei der ersten Übernachtung im Freien fordert Erec<br />
zunächst Enide auf, zu schlafen, er werde wachen. Nachdem sie erklärt, er habe sich bei den Kämpfen mehr angestrengt<br />
als sie, und sie wolle daher die Wache übernehmen, akzeptiert er es sofort.<br />
Enide sucht ihre eigene Erklärung für Erecs Verhalten, und er selbst erklärt es sehr spät. Dadurch, dass er selbst<br />
nicht darüber spricht und Enide zu sprechen verbietet, kann die Lösung des Konflikts nicht zwischen den beiden<br />
geschehen, sondern nur zwischen beiden und der Gesellschaft. Das macht die Sache zwar mühsam, ist aber letzten<br />
Endes sowohl für das Paar als auch für die Gesellschaft von Nutzen. Chrestien lässt sein Erec nur stumm in Gedanken<br />
brüten, und teilt uns diese nicht mit. Als Publikum versuchen wir natürlich, uns Hypothesen darüber zu bilden,<br />
warum der Erzähler uns etwas verschweigt, von dem er wohl wissen muss, dass wir es gerne wüssten. Vielleicht,<br />
denken wir, ist das, was sich Erec wohl denken mag, so großer Unsinn, dass man es besser verschweigt: Erec zweifelt<br />
an Enides Liebe, denn sie scheint ihn weniger zu lieben als er sie, da sie bereit wäre, ihn auf Turniere fortreiten<br />
zu lassen. Er hingegen verzichtet ja ihr zuliebe auf ritterliche Übungen. Für ihn heißt das, dass sie möglicherweise<br />
seine Ehre mehr liebt als seine Gegenwart. Obwohl ein Turnier kein Krieg ist, sondern nur ein Spiel, das einen<br />
solchen symbolisiert, gab es auf Turnieren oft genug tödliche Unfälle. Hätte sie vielleicht nichts dagegen, nachdem<br />
sie nun Prinzessin wurde, bald Witwe zu sein? Deswegen prüft er, ob sie nur seine Abwesenheit vom Hof will,<br />
oder bereit ist, mit ihm alle Mühen zu erleiden. Für ihn steht fest: Er reitet aus, und sie muss mit. Er hat keine<br />
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