25.12.2013 Aufrufe

Literaturgeschichte 750-1500

Literaturgeschichte 750-1500

Literaturgeschichte 750-1500

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Die Spannung zwischen Verschmelzenwollen und Trennung wird nicht nur in den Metaphern, sondern auch<br />

in den sprachlichen Konstruktionen offenbar. „Die Leistung der Kasus ist bis zum Zerspringen angespannt“ (Bertau).<br />

L 4,8:<br />

Sîne klâwen<br />

Seine Klauen<br />

durch die wolken sint geslagen,<br />

sind durch die Wolken geschlagen,<br />

er stîget ûf mit grôzer kraft;<br />

er steigt mit großer Macht empor;<br />

ich sich in grâwen<br />

ich sehe ihn grauen,<br />

tegelîch, als er wil tagen:<br />

täglich, wenn er tagen will,<br />

den tac, der im geselleschaft<br />

den Tag, der ihm die Gesellschaft (seiner Liebsten)<br />

erwenden wil, dem werden man,<br />

rauben will, dem edlen Mann,<br />

den ich mit sorgen în verliez.<br />

den ich (der Wächter) voll Sorgen hineingelassen habe.<br />

Wenn die Liebenden einander beteuern, zwei Herzen, aber nur einen Körper zu besitzen, so ist die Trennung fast<br />

ein Zerschneiden; wenn auch bei Wolfram nicht ohne Hoffnung auf ein Wiedersehen.<br />

In einem Tagelied (5,34) ist die Pointe überraschend und kennt keine Parallele im deutschen Minnesang (allerdings<br />

in der provenzalischen Lyrik 65 ):<br />

Der helden minne ir klage Der heimlichen (‚hehlenden‘) Minne ihre Klage<br />

du sunge ie gên dem tage, hast du (Wächter) immer bei Tagesbeginn (‚gegen den Tag zu‘) gesungen,<br />

daz sûre nâch dem süezen. das Bittere (sûr ‚sauer, bitter‘) nach dem Süßen.<br />

Swer minne und wîplîch grüezen Wenn jemand (swer ‚wer immer‘) Minne und Frauengruß<br />

alsô enpfienc,<br />

so empfangen hat,<br />

daz si sich muosen scheiden,– dass sie sich wieder trennen mußten,<br />

swaz dû dô riete in beiden, was du ihnen beiden zu raten pflegtest,<br />

dô ûf gienc<br />

wenn aufging<br />

der morgensterne, wahtære, swîc, der Morgenstern, Wächter, davon schweige.<br />

dâ von niht sinc.<br />

Davon singe nicht.<br />

Swer pfliget oder ie gepflac, Jeder, der jemals (pflegen ‚eine Tätigkeit oft ausüben‘; pfliget Präs., gepflac Präteritum)<br />

daz er bî lieben wîben lac, (‚dass er‘) bei geliebten Frauen lag,<br />

den merkæren unverborgen, nicht vor den Aufpassern (merkære) versteckt (‚unverborgen‘),<br />

der darf niht durch den morgen der braucht nicht weil es Morgen wird<br />

dannen streben.<br />

davonlaufen (‚fortstreben‘).<br />

Er mac des tages erbeiten. Er kann den Tag erwarten (beiten ‚warten‘).<br />

Man darf in niht ûz leiten Man braucht ihn nicht hinausgeleiten<br />

ûf sîn leben.<br />

unter Lebensgefahr.<br />

Ein offeniu süeze wirtes wîp Eine legale (‚offene‘) liebe Ehefrau (wirt ‚Hausherr‘: ‚Frau des Hausherrn‘)<br />

kan sölhe minne geben.<br />

kann solche Minne geben.<br />

Wegen seines Inhalts nimmt man üblicherweise an, dies sei das letzte Tagelied Wolframs gewesen. Wenn man<br />

nicht versucht, eine biographische Kette zu konstruieren, ist diese Annahme nicht zwingend. Trotzdem wird sie<br />

auch von Vertretern nicht-biographischer Literaturdeutung mit guten Gründen geglaubt. Weil der Ruf wahtære,<br />

swîc einen so sehr über das einzelne Gedicht hinausweisenden Charakter trägt, sieht man in ihm ein literarisches<br />

Programm, wenn man will, sogar ein gesellschaftliches, nicht nur auf Wolframs Dichtung bezogenes. Seltsamerweise<br />

fällt es uns heute schwer, gerade dazu Stellung zu beziehen. Karl BERTAU muss nach einem langen Ausflug<br />

über Karl Marx und Ernst Bloch noch entschuldigend anführen, dass Wolframs „Tagelied-Absage nicht die Kühnheit<br />

seiner Sprache und Metaphorik an banale Monogamiementalität verrät“. Wolfram ist tatsächlich Sprecher<br />

einer Monogamiementalität, und vielleicht stehen seine ‚früheren‘ Tagelieder nicht einmal in Widerspruch dazu. In<br />

ihnen erfährt die Unnatürlichkeit des Trennens von Zusammengehörigem seinen schärfsten Ausdruck. Dass die<br />

Lösung, die eigene Ehefrau als Geliebte zu haben, von ihm als endgültiges Lösungsmittel und Schlußpunkt unter<br />

die Diskussion angesehen worden sein soll, kommt mir nicht glaubhaft vor. Wenn er das für so einfach hielt, hätte<br />

ihm diese Lösung schon früher einfallen können, und er hätte sie wohl nicht als Spaß nach einem provenzalischen<br />

Vorbild gestaltet (s. Anm. 65; die wenigsten Germanisten wissen das übrigens).<br />

Die Komödie der Minnedichtung hat ihren Hintergrund in einer Realität, die wie alle Realitäten, deren Spannungen<br />

zur Produktion von Kunstwerken führen, zugleich ernst und banal ist. Kommt man an dieser Stelle darauf zu<br />

sprechen, dass der mittelalterliche Adelige nicht nur in der Mehrzahl der Fälle keine Liebesehe einging, sondern<br />

auch dann, wie die Itinerarien beweisen, meist zur Verwaltung seiner Lande oder der seines Herrn unterwegs war<br />

oder einen Krieg führte bzw. Kriegsdienst leistete, und entweder der Mann oder die Frau durch Krankheiten und<br />

Schwangerschaften oder Angst davor an der Fähigkeit zu harmonischem Sexualleben gehindert wurde, und dass es<br />

so etwas wie die Möglichkeit zum Aufbau einer nicht geheimen und trotzdem privaten Paarbeziehung bei Hof so<br />

65 Der provenzalische Trobador Elias von Uisel vertritt in einem um oder bald nach 1200 entstandenen jeu partit die Meinung,<br />

die Freude des verheirateten Verehrers sei vorzuziehen, da er seine Geliebte ohne Wächter, Rivalen oder Herrn besitze. Es ist<br />

wahrscheinlich, dass Wolfram dieses Gedicht gekannt hat.<br />

81

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!