Literaturgeschichte 750-1500
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Die Spannung zwischen Verschmelzenwollen und Trennung wird nicht nur in den Metaphern, sondern auch<br />
in den sprachlichen Konstruktionen offenbar. „Die Leistung der Kasus ist bis zum Zerspringen angespannt“ (Bertau).<br />
L 4,8:<br />
Sîne klâwen<br />
Seine Klauen<br />
durch die wolken sint geslagen,<br />
sind durch die Wolken geschlagen,<br />
er stîget ûf mit grôzer kraft;<br />
er steigt mit großer Macht empor;<br />
ich sich in grâwen<br />
ich sehe ihn grauen,<br />
tegelîch, als er wil tagen:<br />
täglich, wenn er tagen will,<br />
den tac, der im geselleschaft<br />
den Tag, der ihm die Gesellschaft (seiner Liebsten)<br />
erwenden wil, dem werden man,<br />
rauben will, dem edlen Mann,<br />
den ich mit sorgen în verliez.<br />
den ich (der Wächter) voll Sorgen hineingelassen habe.<br />
Wenn die Liebenden einander beteuern, zwei Herzen, aber nur einen Körper zu besitzen, so ist die Trennung fast<br />
ein Zerschneiden; wenn auch bei Wolfram nicht ohne Hoffnung auf ein Wiedersehen.<br />
In einem Tagelied (5,34) ist die Pointe überraschend und kennt keine Parallele im deutschen Minnesang (allerdings<br />
in der provenzalischen Lyrik 65 ):<br />
Der helden minne ir klage Der heimlichen (‚hehlenden‘) Minne ihre Klage<br />
du sunge ie gên dem tage, hast du (Wächter) immer bei Tagesbeginn (‚gegen den Tag zu‘) gesungen,<br />
daz sûre nâch dem süezen. das Bittere (sûr ‚sauer, bitter‘) nach dem Süßen.<br />
Swer minne und wîplîch grüezen Wenn jemand (swer ‚wer immer‘) Minne und Frauengruß<br />
alsô enpfienc,<br />
so empfangen hat,<br />
daz si sich muosen scheiden,– dass sie sich wieder trennen mußten,<br />
swaz dû dô riete in beiden, was du ihnen beiden zu raten pflegtest,<br />
dô ûf gienc<br />
wenn aufging<br />
der morgensterne, wahtære, swîc, der Morgenstern, Wächter, davon schweige.<br />
dâ von niht sinc.<br />
Davon singe nicht.<br />
Swer pfliget oder ie gepflac, Jeder, der jemals (pflegen ‚eine Tätigkeit oft ausüben‘; pfliget Präs., gepflac Präteritum)<br />
daz er bî lieben wîben lac, (‚dass er‘) bei geliebten Frauen lag,<br />
den merkæren unverborgen, nicht vor den Aufpassern (merkære) versteckt (‚unverborgen‘),<br />
der darf niht durch den morgen der braucht nicht weil es Morgen wird<br />
dannen streben.<br />
davonlaufen (‚fortstreben‘).<br />
Er mac des tages erbeiten. Er kann den Tag erwarten (beiten ‚warten‘).<br />
Man darf in niht ûz leiten Man braucht ihn nicht hinausgeleiten<br />
ûf sîn leben.<br />
unter Lebensgefahr.<br />
Ein offeniu süeze wirtes wîp Eine legale (‚offene‘) liebe Ehefrau (wirt ‚Hausherr‘: ‚Frau des Hausherrn‘)<br />
kan sölhe minne geben.<br />
kann solche Minne geben.<br />
Wegen seines Inhalts nimmt man üblicherweise an, dies sei das letzte Tagelied Wolframs gewesen. Wenn man<br />
nicht versucht, eine biographische Kette zu konstruieren, ist diese Annahme nicht zwingend. Trotzdem wird sie<br />
auch von Vertretern nicht-biographischer Literaturdeutung mit guten Gründen geglaubt. Weil der Ruf wahtære,<br />
swîc einen so sehr über das einzelne Gedicht hinausweisenden Charakter trägt, sieht man in ihm ein literarisches<br />
Programm, wenn man will, sogar ein gesellschaftliches, nicht nur auf Wolframs Dichtung bezogenes. Seltsamerweise<br />
fällt es uns heute schwer, gerade dazu Stellung zu beziehen. Karl BERTAU muss nach einem langen Ausflug<br />
über Karl Marx und Ernst Bloch noch entschuldigend anführen, dass Wolframs „Tagelied-Absage nicht die Kühnheit<br />
seiner Sprache und Metaphorik an banale Monogamiementalität verrät“. Wolfram ist tatsächlich Sprecher<br />
einer Monogamiementalität, und vielleicht stehen seine ‚früheren‘ Tagelieder nicht einmal in Widerspruch dazu. In<br />
ihnen erfährt die Unnatürlichkeit des Trennens von Zusammengehörigem seinen schärfsten Ausdruck. Dass die<br />
Lösung, die eigene Ehefrau als Geliebte zu haben, von ihm als endgültiges Lösungsmittel und Schlußpunkt unter<br />
die Diskussion angesehen worden sein soll, kommt mir nicht glaubhaft vor. Wenn er das für so einfach hielt, hätte<br />
ihm diese Lösung schon früher einfallen können, und er hätte sie wohl nicht als Spaß nach einem provenzalischen<br />
Vorbild gestaltet (s. Anm. 65; die wenigsten Germanisten wissen das übrigens).<br />
Die Komödie der Minnedichtung hat ihren Hintergrund in einer Realität, die wie alle Realitäten, deren Spannungen<br />
zur Produktion von Kunstwerken führen, zugleich ernst und banal ist. Kommt man an dieser Stelle darauf zu<br />
sprechen, dass der mittelalterliche Adelige nicht nur in der Mehrzahl der Fälle keine Liebesehe einging, sondern<br />
auch dann, wie die Itinerarien beweisen, meist zur Verwaltung seiner Lande oder der seines Herrn unterwegs war<br />
oder einen Krieg führte bzw. Kriegsdienst leistete, und entweder der Mann oder die Frau durch Krankheiten und<br />
Schwangerschaften oder Angst davor an der Fähigkeit zu harmonischem Sexualleben gehindert wurde, und dass es<br />
so etwas wie die Möglichkeit zum Aufbau einer nicht geheimen und trotzdem privaten Paarbeziehung bei Hof so<br />
65 Der provenzalische Trobador Elias von Uisel vertritt in einem um oder bald nach 1200 entstandenen jeu partit die Meinung,<br />
die Freude des verheirateten Verehrers sei vorzuziehen, da er seine Geliebte ohne Wächter, Rivalen oder Herrn besitze. Es ist<br />
wahrscheinlich, dass Wolfram dieses Gedicht gekannt hat.<br />
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