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Literaturgeschichte 750-1500

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jeder) Hinsicht ein moderner Dichter. Anderseits betont er, dass die Hauptaussage doch klar sein sollte. Da kann<br />

dann Gottfried fragen: ‚Woher sollen wir dann die Erklärung bekommen? Einerseits behaupten, dass man nichts<br />

versteht, anderseits so tun, als ob alles klar sei: das sind Taschenspielertricks.‘ Doch auch von den Prinzipien ihres<br />

Denkens und ihrer Welten stehen die beiden weit ab. Wolfram wirkt indirekt dadurch esoterisch 100 , dass, wer nicht<br />

bereit ist, die ganze Schärfe seines Verstandes bereitzuhalten, bei der Lektüre des Parzival auf der Strecke bleibt.<br />

Gottfried bereitet dem Leser viel weniger Schwierigkeiten, aber er schreibt sein Werk nur für eine Gemeinde von<br />

Berufenen, er gibt also vor, esoterisch zu sein. Wer nicht von sich aus in der Lage ist, das Wunder der Liebe zu<br />

verstehen, gehört nicht zu den Eingeweihten (das ist nicht wirklich eine Einschränkung des Publikums: wer, der<br />

einen Roman liest, wird sich selbst unter die zählen, die nicht wissen, was wahre Liebe ist?). Nur für die, die die<br />

göttliche Kraft der Minne, die Tod und Leben zugleich ist, kennen, hat er seinen Tristan geschrieben. Ir aller<br />

werlde, die Welt aller anderen Menschen, ist eine andere Welt, die mit der Welt der wahrhaft Liebenden nichts<br />

gemein hat.<br />

Und das ist, wenn man davon ausgeht, dass alle, die sich selbst als wahrhaft Liebende fühlen, davon überzeugt<br />

sind, dass es auch Menschen gibt, die nicht wahrhafte Liebe erlebt haben, tatsächlich Esoterik. Nicht zufällig hat<br />

den Kreis um Stefan George Gottfrieds Tristan-Roman interessiert; die heute maßgebliche Ausgabe stammt von<br />

Friedrich RANKE, einem Mitglied des George-Kreises. Die Menschen, die diese andere Welt Gottfrieds bewohnen,<br />

sind die edelen herzen, und nur sie können die folgende Geschichte verstehen (45ff.):<br />

Ich hân mir eine unmüezekeit Ich habe mir eine Beschäftigung<br />

der werlt ze liebe vür geleit der Welt zuliebe vorgenommen,<br />

und edelen herzen z’ einer hage, und für edle Herzen zum Behagen<br />

den herzen, den ich herze trage, für die Herzen, denen ich Herz trage,<br />

der werlde, in die mîn herze siht. für die Welt, in die mein Herz hineinsieht.<br />

Ich meine ir aller werlde niht Ich meine nicht die Welt ihrer aller,<br />

als die, von der ich hœre sagen, nämlich die, von der ich sagen höre,<br />

diu deheine swære müge getragen dass sie keine Beschwernis ertragen kann<br />

und niwan in fröuden welle sweben: und nur (niwan ‚nichts außer‘) in Freuden dahinfliegen (‚schweben‘) will:<br />

die lâze ouch got mit fröuden leben! die möge auch Gott in Freuden leben lassen!<br />

Der werlde und disem lebene Mit dieser Welt und diesem Leben<br />

enkumt mîn rede niht ebene: kommt meine Rede nicht auf gleich:<br />

ir leben und mînez zweient sich. ihr Leben und meines gehen getrennte Wege.<br />

Ein ander werlt die meine ich, Eine andere Welt meine ich,<br />

diu sament in einem herzen treit die zusammen in einem Herzen trägt<br />

ir süeze sûr, ir liebez leit,<br />

ihre süße Bitterkeit (sûr ‚bitter, sauer‘), ihr liebes Leid,<br />

ir herzeliep, ir senede nôt,<br />

ihre Herzensliebe, ihre Liebesnot,<br />

ir liebez leben, ir leiden tôt, ihr liebes Leben, ihren leidvollen Tod,<br />

ir lieben tôt, ir leidez leben: ihren lieben Tod, ihr leidvolles Leben:<br />

dem lebene sî mîn leben ergeben, dem Leben sei mein Leben ergeben,<br />

der werlt wil ich gewerldet wesen, für diese Welt will ich geweltet sein,<br />

mit ir verderben oder genesen. mit ihr zugrunde gehen oder gesunden.<br />

In die eine Welt, die der ‚edlen Herzen‘, sehen die Augen seines Herzens, die andere, die Welt ‚aller (gewöhnlichen)<br />

Menschen‘, kennt er nicht, er kennt sie nur vom Hörensagen. In der Gottfriedschen Welt sind die<br />

reinen Liebenden auch in der Verstechnik ineinander verklammert (129f.):<br />

Ein man, ein wip; ein wip, ein man,<br />

Tristan Îsôt, Îsôt, Tristan.<br />

Dem, der in dieser Gemeinschaft lebt, hat die Liebe den Wert der Eucharistie:<br />

Deist aller edelen herzen brôt. Das [der Liebesroman von Tristan und Isolde] ist das Brot aller edlen Herzen.<br />

Hie mite sô lebet ir beider tôt.<br />

Hiemit lebt ihr beider Tod.<br />

Wir lesen ir leben, wir lesen ir tôt: Wir lesen von ihrem Leben, wir lesen von ihrem Tod:<br />

und ist uns daz süez alse brôt.<br />

und das ist für uns süß wie Brot.<br />

Ir leben, ir tôt sint unser brôt.<br />

Ihr Leben, ihr Tod sind unser Brot.<br />

Sus lebet ir leben, sus lebet ir tôt. So lebt ihr Leben, so lebt ihr Tod.<br />

Sus lebent si noch und sint doch tôt, So leben sie noch und sind doch tot,<br />

Und ist ir tôt der lebenden brôt. und ihr Tod ist das Brot der Lebenden.<br />

Bei Wolfram kann die Macht der Minne einen Heiden zum Christentum bekehren, bei Gottfried kann die Minne<br />

im Herzen eine Stellung einnehmen, die sonst der Religion zukommt.<br />

103<br />

100 esoterisch: ‚nach innen gewandt’, also nur für die bereits in eine Gemeinschaft berufenen Mitglieder einer Gemeinschaft; z.<br />

B. die meisten Mysterienreligionen. Wer von der Gottheit berufen ist, wird selbst zur Gemeinschaft stoßen; Missionierung ist<br />

daher nicht notwendig. Dagegen exoterisch: nach außen gewandt, also mit der Absicht, einer Gemeinschaft neue Mitglieder zu<br />

werben (z. B. die christliche Religion und die anderen missionierenden Religionen).

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