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Literaturgeschichte 750-1500

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wil ich den vrowen allez geben,<br />

alles will ich den Damen geben,<br />

und dienen als ich beste kan.<br />

und ihnen dienen, so gut ich kann.<br />

Und wird ich immer ze einem man,<br />

Und werde ich einmal erwachsen,<br />

mîn dienest muoz an in geligen,<br />

so werde ich ihnen dienen,<br />

dâ mit verderben oder gesigen:<br />

ob ich damit Erfolg habe oder nicht:<br />

ich wil in immer dienent sîn.“<br />

ich will immer ihnen dienend sein.“<br />

Sus riet mir daz herze mîn.<br />

Diesen Rat gab mir mein Herz.<br />

Mîn dienest muoz an in geligen ‚Mein Dienst muss an ihnen gelegen sein‘ impliziert: dienest ist etwas, das den<br />

Mann auf jeden Fall charakterisiert, die Frage ist nur: wem soll er dienen, und da entscheidet sich Ulrich zu<br />

Gunsten der Damen. Der Dienst des Ritters schlechthin ist also weder der an Gott (Parzival) noch der am Herrn<br />

(Gahmuret), sondern der ‚Frauendienst‘.<br />

In den Gedanken, daz ist wâr,<br />

In solchen Gedanken, das ist wahr,<br />

wuohs ich unz in das zwelfte jâr.<br />

wuchs ich bis ins zwölfte Lebensjahr hinein auf.<br />

Ich dâhte her, ich dâhte hin,<br />

Ich überlegte hin und her,<br />

nâch mînes jungen herzen sin.<br />

wie es meinem jungen Herzen in den Sinn kam.<br />

Mit vrâge vuor ich durch diu lant:<br />

Wohin ich kam, fragte ich:<br />

swâ iemen werde vrowen vant,<br />

überall wo es würdige Frauen gab,<br />

der site, der lîp, der muot, der tugent<br />

deren Benehmen, Äußeres, Gesinnung und Tugend<br />

erfuor ich gar in mîner jugent.<br />

hörte ich in meiner Jugend gern erzählen.<br />

vinden: ‚vorfinden‘, nicht unbedingt ‚nach längerer Suche finden‘, ‚wo irgendjemand würdige Frauen wußte‘; ervarn ‚etwas<br />

erfahren, von etwas erzählen hören‘.<br />

Swer lop von guoten wîben sprach,<br />

Wenn wer edle Frauen rühmte,<br />

dem sleich ich allez smielent nâch.<br />

schlich ich ihm immer grinsend nach.<br />

Ir lop daz tet mir alsô wol,<br />

Wenn man sie pries, ergötzte ich mich daran<br />

Daz ich dâ von wart vreuden vol.<br />

und wurde voll Freude.<br />

Mir tet vil manic wîser munt<br />

Viele erfahrenen Leute<br />

ir lop und ouch ir êre kunt:<br />

priesen und ehrten sie vor mir:<br />

si lobten jene, sie lobten die,<br />

sie lobten jene, sie lobten diese,<br />

sie lobten dort, sie lobten hie.<br />

sie lobten dort, sie lobten hier.<br />

smielen ‚lächeln‘ (engl. to smile).<br />

Durch die Schilderung der Reaktion des unerfahrenen Kindes gelingt Ulrich eine Charakterisierung der Grundideen<br />

der ‚höfischen Minnekultur‘ um 1200.<br />

Ir aller lobes vernam ich vil:<br />

Sie alle hörte ich viel preisen,<br />

von einer ich doch sagen wil.<br />

doch ich will nur von einer erzählen,<br />

Der lop was in die hoehe komen:<br />

die man besonders rühmte:<br />

Ir lop sich heten an genomen<br />

Sie zu preisen hatten sich zur Aufgabe gemacht<br />

Die besten gar übr elliu lant.<br />

die Besten aus allen Landen.<br />

Swem rehte wart ir tugent bekant,<br />

Wer sie in ihrer Tugendhaftigkeit kennen gelernt hatte,<br />

und kunde der iht tugende spehen,<br />

der sich auf die Beurteilung von Tugend verstand,<br />

der muost ir hôher tugende jehen.<br />

der mußte ihr hohe Tugendhaftigkeit zugestehen.<br />

Bedeutung der Konstruktion von jehen mit Dativ der Person und Genitiv der Sache: ‚jemandem etwas zugestehen‘.<br />

Si was zer besten ûz erkorn,<br />

Man erwählte sie als die beste,<br />

si was von hôher art geborn,<br />

sie stammte aus hohem Adel,<br />

si was schoene, si was guot,<br />

sie war schön, sie war edel,<br />

si was reiniclîch gemuot,<br />

sie war von reiner Gesinnung,<br />

si was kiusche, senfte gar,<br />

sie war keusch, sie war sehr sanft,<br />

si was minneclîch gevar:<br />

sie war lieblich anzusehen.<br />

von ir vil tugende wart vernomen:<br />

Von ihr hörte man, wie tugendreich sie sei.<br />

si was an tugenden gar volkomen.<br />

An Tugenden war sie nachgerade vollkommen.<br />

Dass ein Ritter eine hochadelige Dame – offensichtlich die Herrin an dem Hof, an dem er dient – verehrt, wird aus<br />

Aspekten gesehen, die sehr unterschiedlich sind, zu verschiedenen Betrachtungsweisen gehören, aber einander<br />

nicht ausschließen. Da ist vor allem der Aspekt, dass die Verehrung der Dame des Hofes ein Element der höfischen<br />

Kultur ist, und daher zum Teil als Analogie zum Dienst für den Herrn gesehen werden kann. Da ist der weitere<br />

Aspekt, dass sich der Dienst eines Dichters am Landesherrn sublimer darin äußert, wenn ‚eine höchste Dame am<br />

Hof‘ gepriesen wird, als in direkter Schmeichelei für den Landesherrn. Dann ist da der dritte Aspekt, dass diese<br />

öffentliche ‚Minnekultur‘ das Motivinventar und die erzählerische Grundstruktur für Dichtungen abgeben kann, die<br />

das Thema ‚Freude‘ und insbesondere die Aussage „Freude des Individuums ist nur erreichbar, wenn es durch die<br />

Gesellschaft geschätzt wird (Ehre) und in Liebe einem Partner bzw. einer Partnerin aus dem anderen Geschlecht<br />

verbunden ist“ abhandeln bzw. variieren. Darüber wird der vierte Aspekt gerne vergessen, dass die Romane sicher<br />

einen Teil der sozialen Realität schildern, wenn etwa in Gottfrieds ‚Tristan‘ alle Ritter bei Hof Isolde verliebte<br />

Blicke zuwerfen: ob der junge Ulrich sich in die ‚Dame des Hofes‘ verliebte, ist natürlich nicht aus dem Frauendienst<br />

nachweisbar, und unser Vergnügen, das wir empfinden, wenn wir ihn als ‚Publikum‘ zu unserem Vergnügen<br />

lesen, sollten wir uns nicht durch das Nachdenken darüber stören lassen, ob er es „wirklich war“, und wenn wir ihn<br />

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