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Literaturgeschichte 750-1500

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6 oder 7 Jahren sei noch nie ein Ritter lebend davon zurückgekehrt. Das ist erst recht ein Grund für Erec, hinzureiten. Guivret<br />

nennt ihm den Namen des Abenteuers: Joie de la Cort, (sprich [schoidelakurt] – ‚Freude des Hofes‘). Wie kann die ‚Hoffreude‘<br />

Schmerz und Trauer bringen und ein tödliches Abenteuer sein? Erec ruft aus, dass gerade die Freude das ist, was er sucht.<br />

Nichts kann ihn von dieser Aventüre abhalten.<br />

Schon der Weg zur Burg wird unheimlich: alle Leute, die Erec begegnen, beklagen, dass ein so schöner Ritter sterben soll.<br />

König Evrain, der Herr der Burg, bewirtet Erec freundlich, und versucht, ihn davon abzubringen, die Joie de la Cort bestehen zu<br />

wollen. Es ist der sichere Tod, aber falls jemand dieses Abenteuer bestünde, würde er so große Ehre erringen, wie noch nie<br />

jemand zuvor. Vergeblich warnt Evrain, gerade das reizt Erec. Am nächsten Morgen brechen sie auf sein Verlangen zur Joie de<br />

la Cort auf. Alle beklagen ihn schon als Toten. Der König führt ihn zu einem Park, einem Zaubergarten, in dem das ganze Jahr<br />

Blumen blühen und schönes Obst wächst, und der von keiner Mauer umgeben ist, aber trotzdem durch Zauberkunst so verschlossen,<br />

dass man nur an einer einzigen Stelle eintreten kann. Erec hört die Vögel im Park singen, die für ihn die Joie darstellen;<br />

da sieht er auf spitzen Pfählen Helme hängen, unter den Helmen die Köpfe der Erschlagenen. Ein Pfahl ist schon für den<br />

nächsten Besiegten hergerichtet, und auf ihm hängt ein Horn. Wenn jemand das Abenteuer besteht, darf er in das Horn blasen<br />

und damit verkünden, dass er die Freude des Hofes hergestellt hat. Das also wäre die Joie. König Evrain sagt Erec, dass noch nie<br />

jemand dieses Horn zu blasen vermochte, sondern alle, die bisher hierher kamen, verloren den Kopf. Man darf keine Begleiter<br />

in den Garten mitnehmen. Erec verabschiedet sich von Enide und den anderen und reitet allein ins Innere des Gartens. Nach<br />

kurzem Ritt sieht er ein schönes Mädchen auf einem silbernen Ruhebett, doch gleich kommt ein großer Ritter in einer roten<br />

Rüstung. Erec nähert sich der Schönen, da beschimpft ihn der Ritter, dass er sich seinem Fräulein zu nahen wagt, und fordert ihn<br />

zum Kampf. Dies wird der schwerste Kampf Erecs. Sie kämpfen von der Frühe bis in den Nachmittag, bis sie so viel Schweiß<br />

und Blut vor den Augen haben, dass sie einander nicht mehr sehen können und (hier ist die übliche Metapher vom ‚blinden‘<br />

Hass in ein Bild verwandelt!) mit den Schwertern in die Luft schlagen. Da lassen sie die Waffen fallen und beginnen zu ringen,<br />

bis schließlich Erec dem anderen das Knie auf die Brust setzen kann. Der muss sich zwar für besiegt erklären, bittet aber den<br />

Sieger, zuerst seinen Namen zu nennen, um dadurch getröstet zu werden. Und Erec, der bisher streng das Ritual eingehalten hat,<br />

sich keinem Schwächeren als erster zu nennen, erfüllt ihm die Bitte, unter der Bedingung, dass ihm der andere die ganze Geschichte<br />

der Joie de la Cort erzählt. Es stellt sich heraus, dass der Ritter am Hof von Erecs Vater aufgewachsen ist und sie<br />

einander kennen. Der Ritter hatte sich in ein Mädchen verliebt, eben das auf dem silbernen Ruhebett, und sie bat ihn eines<br />

Tages, ihm einen Wunsch zu erfüllen, ohne ihn zu nennen. Er sagte im Voraus ja, weil er sie so sehr liebte. Und nach seinem<br />

Ritterschlag sprach sie den Wunsch aus: er solle diesen Garten nie verlassen, bis er von einem Ritter besiegt werde. Da er stark<br />

war, nahm sie an, nie werde ihn jemand besiegen, und er müsse immer bei ihr bleiben. Nun war er gleichzeitig besiegt und<br />

befreit. Und die Joie de la Cort, die er erwartet, das ist die Freude, die er und alle haben werden, wenn sein Bezwinger zum<br />

Zeichen des Sieges in das Horn bläst, das noch niemand geblasen hat. Erec bläst das Horn, der Ritter ist befreit und die ‚Hoffreude‘<br />

kann beginnen. Das Fräulein dagegen weint, weil sie befürchtet, dass ihr Ritter, den sie so liebt, er heißt Mabonagrain,<br />

sie einmal verlassen könnte, weil er nicht mehr durch den Zauber an sie gebunden ist. Enide tröstet sie, und die beiden entdecken,<br />

dass sie Cousinen sind.<br />

Die Joie wird drei Tage gefeiert, die Damen dichten für das Fest einen eigenen Lai, den ‚Lai der Freude‘, dann ziehen Erec,<br />

Enide und Guivret weiter zu Artus. Erec schickt wieder Boten voraus, der Empfang ist also wieder prächtig, obwohl diesmal der<br />

Artushof nicht in bestem Zustand ist: Artus wurde eben zur Ader gelassen und hat gerade nur wenig Gefolgsleute bei sich. Jetzt<br />

ist Erec der, der Freude an den Artushof bringt. Erec und Guivret bleiben am Artushof. Nach einiger Zeit kommen Boten nach<br />

Tintaguel (an der Südküste von Cornwall), wo Artus gerade weilt, die den Tod von Erecs Vater Lac melden. Erec tut etwas sehr<br />

Vernünftiges: er will seine Krone und sein Land von Artus zu Lehen erhalten. Artus beschließt, die Krönung in Nantes in der<br />

Bretagne durchzuführen. Das Krönungsfest, vor allem die von vier Feen gearbeitete Kleidung Erecs und die Symbolfiguren<br />

darauf und der Glanz der Insignien von Erec und Enide werden kunstvoll geschildert; die Krönung vollzieht der Bischof von<br />

Nantes, das Szepter überreicht König Artus. Enides Eltern sind auch anwesend und weinen vor Freude, wie ihre Tochter gekrönt<br />

wird; ihre Mutter heißt Tarsenesyde und ihr Vater Licorant (die Namen waren den Abschreibern unbekannt und lauten in fast<br />

jeder Handschrift etwas anders), erfahren wir jetzt. So prächtig wie die Krönung ist dann auch der Festgottesdienst und dann das<br />

Festessen. Tausend Ritter, in Hermelinpelze gekleidet, servieren Brot, tausend Wein und tausend die übrigen Speisen.<br />

Diese könnte ich euch wohl schildern, obwohl ich sie nicht gesehen habe, aber ich habe jetzt andere Arbeit zu tun, als über das<br />

Essen zu berichten.<br />

Mit diesem ‚überlegenen Abgang‘ hat Chrestien wahrscheinlich seinen Erec geschlossen. Die Handschriften<br />

haben in den letzten Versen einen zum Teil recht unterschiedlichen Wortlaut und fügen dann noch so etwas wie<br />

deutliche Schlüsse an. Die Chance, dass eines dieser Schluss-Anhängsel von Chrestien sein könnte, ist sehr gering.<br />

Das Exemplar, das Hartmann vorlag, hatte vielleicht einen Schluss ähnlich der Hs. A, die mit einer Anrufung Gottes<br />

endet. Diese Handschrift fügt mehr religiöse Elemente ein; unter anderem nach der Ankunft am Hof von Erecs<br />

Vater, zu Beginn des ersten Ehelebens, ein Gebet Enides um Kindersegen. Chrestien gestaltete Probleme der höfischen<br />

Kultur und wollte diesseitige Freude bringen. Das war für schriftliche Dichtung etwas Neues; die rein<br />

kurzweilige Erbauung war bis ca. 1150 Aufgabe des mündlichen Vortrags der Spielleute. Es ist falsch, wenn mancherorts<br />

geschrieben steht, die Dichtung habe sich um 1150 von der Klosterstube emanzipiert: die Schriftlichkeit<br />

emanzipiert sich teilweise von der Klosterstube und greift auf Stoffe über, von denen sie vorher ausgeschlossen<br />

war. Wie die genannten religiösen Zusätze französischer Schreiber zeigen, war nicht ganz Frankreich auf diesem<br />

Weg so weit fortgeschritten wie Chrestien. Dass Hartmann sich nicht so weit von der geistlichen Dichtung entfernt,<br />

bedeutet nicht, dass Frankreich als Ganzes in dieser Hinsicht moderner gedacht hätte als Deutschland.<br />

Das Bewusstsein, dass ‚Kirche‘ und ‚Klerus‘ nicht synonym sind, war im Mittelalter viel stärker ausgeprägt als<br />

heutzutage. Die Laien sind selbstverständlich auch ein Teil der Kirche. Das bedeutete, dass hochgestellte Mitglieder<br />

des Laienstandes (König, Landesherr, Grundherr) Dienste von den von ihnen erhaltenen Klöstern und Pfarreien<br />

verlangten; darunter die Abwicklung all dessen, was Schriftlichkeit erfordert (Rechnungswesen, Briefverkehr,<br />

Urkundenausstellung usw.). Bei starken Gegensätzen zwischen geistlichem und weltlichem Herrn war Kom-

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