Literaturgeschichte 750-1500
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er ohnmächtig. Dort begehrte der Graf nur Enide, fiel aber auf ihren Trick mit dem ‚nächsten Tag‘ herein; hier wird<br />
sie gleich gewaltsam verheiratet. Doch nachdem die Liebe zwischen Erec und Enide bereits über die Krisis hinweg<br />
ist – es fehlt ja nur mehr seine ritterliche Bewährung – erwacht er durch ihren Hilfeschrei aus seiner Ohnmacht.<br />
Enide ist ihm über den vermeintlichen Tod hinaus treu gewesen; sie hat sogar mehr gehalten als die von der Gesellschaft<br />
üblicherweise geforderte ‚Treue bis zum Tod‘, und verdient dafür ein besseres Reittier als das gräfliche,<br />
mit dem sie an den Artushof gekommen ist: sie verdient ein einzigartiges. Doch noch ist keines zur Stelle und Erec<br />
lässt sie zu sich aufsitzen. Vor ihm ist sie schon geadelt, die Adelung durch die Gesellschaft wird bald folgen. Er<br />
hat dagegen den Tag seiner ritterlichen Bewährung noch nicht erreicht, die er um jeden Preis erwerben will (Graf<br />
Oringles war ja unbewaffnet und beim Essen, als Erec ihn erschlug). Es ist nicht zufällig noch Nacht um ihn, als er<br />
die Helfer (Guivret und dessen Leute) für Feinde hält; ein Nichterkennen hätte sich (siehe Keu) auch mit anderen<br />
Mitteln arrangieren lassen. Und gegen einen übermächtigen Feind, ein ganzes Heer von tausend Rittern, allein<br />
kämpfen zu wollen, kann nur Niederlage bringen und ist unvernünftig, auch wenn es Erecs dringendem Wunsch<br />
nach Bewährung recht käme. Doch durch seine Verletzung wird er schon vom ersten der tausend besiegt. Enide<br />
bringt jetzt die Rettung, indem sie dem Sieger seinen Namen nennt, und führt das Erkennen mit Guivret herbei. Die<br />
Einsicht, dass die Heilung der Wunde und die Vorbereitung zur Bewährung Zeit brauchen, kann nur durch eine<br />
Niederlage erreicht werden, nicht durch Vernunftgründe.<br />
Nach der Heilung der Wunde wäre Erec bereits des Artushofes würdig und bricht daher auch zusammen mit<br />
seinem Freund (ein Zeichen, dass er schon wieder in die ritterliche Gesellschaft eingegliedert ist) auf. Enide hat<br />
schon alle möglichen Bewährungsproben bestanden und daher ein Pferd und Reitzeug von unerhörter Kostbarkeit<br />
und auch Einmaligkeit erhalten. Erec hat hingegen noch nichts Unerhörtes geleistet, was allerdings nicht Bedingung<br />
für die Aufnahme am Artushof ist – dort war er ja schon von Anfang an willkommen –, konsequenterweise erlebt er<br />
dieses Abenteuer erst auf dem Wege dorthin. Das Joie de la Cort Abenteuer bringt viel mehr als nur die Besiegung<br />
des tapfersten Ritters: gleichzeitig kann die ‚Hoffreude‘ wiederhergestellt werden und, mit Enides Hilfe, das durch<br />
die übermäßige Liebe zwischen Mabonagrain und seiner Freundin entstandene Unglück gutgemacht und auch das<br />
trauernde Fräulein getröstet werden. Erec und Enide haben nicht nur die Krise ihrer eigenen Liebe überwunden,<br />
sondern sie haben auch den anderen dazu verholfen, in einem ähnlich gelagerten Fall in die Freiheit zu gelangen.<br />
Dass das Fräulein und Enide nicht zufällig Cousinen sind, also eine ähnliche Natur besitzen, und Erec und<br />
Mabonagrain nicht zufällig am selben Hof erzogen wurden, also eine ähnliche Denkweise besitzen, braucht nicht<br />
betont werden. Was bedeutet diese enge Bekanntschaft bzw. Verwandtschaft von Erec und Mabonagrain und Enide<br />
und dem Mädchen? Die Ähnlichkeit der früheren Denkart von Erec und Enide und den beiden ist offenkundig; sie<br />
haben demnach ihr früheres Selbst besiegt. Der Sieg über sich selbst ist es, was die Joie de la Cort so schwer<br />
erreichbar macht. Bis in Details hinein, wie dass Erec im Kampf gegen Yder den direkten Anblick der Geliebten<br />
brauchte, um sich Kraft zu holen, und nun ohne ihre Gegenwart aus dem Bewusstsein ihrer Liebe mehr Kraft<br />
schöpfen kann als Mabonagrain aus dem Anblick seiner Freundin (der ihn anscheinend stärker machte als alle anderen),<br />
ist diese Szene eine Auflösung der früheren Unvollkommenheiten. Nachdem die ‚Hoffreude‘ befreit ist,<br />
kommt Erec nun nicht, wie er es erwartet hat, als Gleicher an den Artushof, sondern als Freudebringer an den<br />
seinerseits kranken Artushof: Artus ist zur Ader gelassen worden und hat auch gerade nur 500 Barone um sich.<br />
Dass Erec, nach einer weiteren Zeit am Artushof, gereift genug ist, die Herrschaft anzutreten, verwundert keinen<br />
Leser. Boten bringen die Nachricht vom Ableben des Königs Lac. Dass Erecs Krönungsfest der logische Abschluss<br />
der Erzählung sein muss, ist klar. Dass Chrestien aber auch noch am Schluss etwas Unerwartetes bringen<br />
will, überrascht uns nicht. So dürfen wir rätseln, warum die Namen von Enides Eltern erst bei ihrer Krönung genannt<br />
werden (vielleicht, weil sich erst jetzt der Wunsch ihres Lebens erfüllt hat, nämlich ihre Tochter als Königin<br />
zu sehen, oder weil sie dadurch erst ‚einen Namen‘ in der Gesellschaft haben?).<br />
Aber: wieso muss man aus Cornwall in die Bretagne fahren, wieso muss Erec Lehensmann von Artus werden,<br />
wo er doch selbständiger König sein könnte – und nicht einmal mit einer Begründung, die der Idealität des Artushofes<br />
(die außerdem im Erec gar nicht gegeben ist) entspricht, sondern einfach mit dem Hinweis auf staatspolitische<br />
Klugheit? Diese Wendung fällt so sehr aus dem Rahmen, dass man wohl mit Recht versucht hat, hier nicht einen<br />
Teil der zeitlos gültigen Handlung unserer Geschichte, sondern einen Reflex des aktuellen Anlasses zu sehen, aus<br />
dem Chrestien den Erec niederschrieb.<br />
Was diesen aktuellen Anlass betrifft, so könnte uns gleichgültig sein, ob in Nantes, einer Stadt, die zum Herrschaftsbereich<br />
Heinrichs II. gehörte, etwa zwischen 1165 und 1170 eines oder mehrere Feste stattfanden, die<br />
Chrestien gesehen haben könnte, wenn nicht so etwas wie eine gesellschaftspolitische Aussage in dem Werk stecken<br />
könnte. Dass dem so ist, ist schon dadurch wahrscheinlich, dass Chrestien ja wissen musste, dass eine der<br />
Vorlagen seines Werkes, der Brut von Wace, direkt im Auftrag des englischen Königs verfasst war und dort Artus<br />
das in der Vergangenheit verwirklichte Idealbild Heinrichs II. war.<br />
Gesellschaftsschichten, die im Erec vorkommen, denen anderseits auch die Leser zuzuordnen sind, sind: der<br />
König, der Hochadel und der Kleinadel. Alle anderen Stände, auch die im 12. Jahrhundert zu Reichtum kommenden<br />
Bürger, erscheinen höchstens an der Peripherie, etwa als Unterkunftgeber, oder als nichtsnutziges Gesindel.<br />
Handlungsbestimmend sind nur Adelige. Der Konservativismus, der Bürger und andere Nichtadelige aus der illustren<br />
Gesellschaft ausschließt, ist klar und braucht nicht eigens diskutiert zu werden. Wie aber das Verhältnis des<br />
Dichters zu den drei Größen: Königtum, Hochadel und Kleinadel ist, wurde seit KÖHLERs Werk eifrig diskutiert.<br />
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