25.12.2013 Aufrufe

Literaturgeschichte 750-1500

Literaturgeschichte 750-1500

Literaturgeschichte 750-1500

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

59<br />

vollzieht die Trauung. Bei der Trauung ist Erec gezwungen, den Namen der Braut zu nennen, und so erfahren die Gäste und<br />

wir: sie heißt Enide. Auf die Schilderung der Festesfreude (einschließlich der Darbietungen der Spielleute) folgt die Schilderung<br />

der Freuden der Hochzeitsnacht:<br />

Da muss keine Brangäne untergeschoben werden. Aber in dieser Nacht entschädigen sie sich dafür, dass sie so lange (immerhin<br />

von Ostern bis Pfingsten!) gewartet hatten.<br />

Bei Markes Beilager mit Isolde, die sich schon Tristan hingegeben hatte, musste im Finstern die noch jungfräuliche<br />

Dienerin Brangäne die Stelle der Braut einnehmen; die zitierte Stelle heißt also, Enide war noch jungfräulich.<br />

Mit Anspielungen wie dieser verrät uns Chrestien, was wir unbedingt wissen wollten: ob es vor dem Erec<br />

schon keltische Sagenstoffe in der höfischen Literatur gegeben hat. Tristan war also zur Abfassungszeit des Erec<br />

schon bekannt.<br />

Das prächtige Fest dauert zwei Wochen lang; die Spielleute, die die Gesellschaft unterhalten, haben nicht minder Anlass zur<br />

Freude, denn sie werden fürstlich beschenkt, vor allem mit Pelzröcken und anderen Kleidern, und denjenigen von ihnen, die<br />

Schulden gemacht haben, werden sie erlassen. 53 Dann wird ein Turnier zwischen York und Edinburg veranstaltet (Chrestien<br />

glaubte wohl, die beiden Orte lägen nahe beisammen). Die Damen verschenken aus Liebe Ärmel und andere Accessoires ihrer<br />

Kleidung an die Ritter, die zu ihrer Ehre kämpfen. 54 Erec übertrifft natürlich alle an Tapferkeit, sogar Gauvain. Nach dem Turnier<br />

bricht Erec bald auf, um Enide in das Reich seines Vaters, Carnant (in Südwales) zu führen. Als alles vorbereitet ist, bricht<br />

er am nächsten Morgen schon im Morgengrauen auf, so eilig hat er es, nach Hause zu kommen. Dort gibt es wieder ein großes<br />

Begrüßungsfest. Durch erzählerische Kunstgriffe kann Chrestien die festliche Pracht schon bei den Empfängen zeigen: hier<br />

werden Boten vorausgeschickt; zuvor, erinnern wir uns, musste der besiegte Yder an den Artushof vorausreiten. Man weiß also<br />

schon, wer wann kommen wird, und empfängt entsprechend festlich. Wir taumeln daher von einem freudigen Fest ins andere.<br />

Alle freuten sich über Erec,<br />

noch viel größere Freude als über ihn zeigten sie über Enide, wegen ihrer Schönheit, und noch mehr wegen ihrer franchise (‚das<br />

einem Adeligen anstehende vornehme Benehmen‘).<br />

Jetzt, wir haben gut ein Drittel des Werkes hinter uns, hat Erec anscheinend sein Ziel erreicht.<br />

Er liebt Enide mit so großer Liebe, dass er ihretwegen auf keine Turniere mehr zieht, sondern ständig zu Hause bleibt. Manchmal<br />

bleiben die beiden sogar bis Mittag im Bett liegen. Er rüstet seine Ritter zwar reich aus, wenn sie auf Turniere ziehen wollen,<br />

ihm selbst ist das Turnier aber gleichgültig. Seine Ritter reden untereinander, wie schade es doch sei, dass Erec sich so<br />

verändert habe, und dass Enide daran schuld sei, weil sie ihn so betört habe. Das hört Enide, aber sie wagt nicht, es Erec zu<br />

sagen, damit er nicht auf sie böse werde. Eines Morgens liegen sie im Bett, wo sie gerade großes Vergnügen genossen haben,<br />

Mund an Mund. Er schlafend, sie wach. Da fällt ihr ein, was die Leute von Erec reden, und sie weint, weil er ihretwegen auf<br />

Waffenübungen verzichtet, und sie ihm, ohne es zu wollen, Schande zugefügt hat, und seufzt<br />

„Du Unglücklicher!“<br />

Erec schläft aber nicht tief, sondern wacht davon auf, und verlangt die Wahrheit zu hören. Enide erzählt ihm tatsächlich alles,<br />

obwohl sie weiß, dass er darüber erzürnen wird, und sie gibt sich selbst die Schuld. Erec gibt ihr Recht, und denen, die ihn<br />

dafür tadeln, und befiehlt nur, sie solle ihr schönstes Kleid anziehen und ihr bestes Pferd satteln lassen. Was er vorhat, verrät er<br />

nicht; sie fürchtet daher, er will sie verstoßen. Doch er lässt seine beste Rüstung bringen und sein bestes Pferd. Als er sich<br />

wappnen lässt, betont er seine Herrscherwürde, indem er sich dazu auf einen Teppich mit dem Leopardenwappen setzt; dann<br />

reitet er mit Enide fort. Sein Vater und sein Gefolge versuchen, ihn davon abzubringen, oder ihn wenigstens zu überreden, eine<br />

standesgemäße Begleitung, Gepäck und Gold mitzunehmen. Doch er schlägt alles aus und bittet nur seinen Vater, den er als<br />

einzigen über den Grund des Aufbruchs informiert, falls er auf dieser Fahrt das Leben verliere, aus Liebe zu Enide ihr freiwillig<br />

die Hälfte seines Vermögens zu überlassen. Die Zurückbleibenden sind traurig; sie befürchten, Erec wolle heimlich einen gefährlichen<br />

Zweikampf bestehen. Dann befiehlt er seiner Frau, schnell vor ihm herzureiten. Er gebietet ihr zu schweigen, wenn er<br />

sie nicht anredet; vor allem darf sie ihn auf nichts aufmerksam machen, was sie sieht. Sie gehorcht und reitet traurig ein Stück<br />

vor ihm her, da sieht sie drei Raubritter, die sich schon unterhalten, welcher von ihnen Enide bekommt, welcher ihr Pferd und<br />

welcher ihr Sattelzeug. Erec wollen sie töten. Enide hat Angst, dass Erec getötet wird, wenn sich drei auf ihn stürzen, ohne dass<br />

er darauf vorbereitet ist, und aus Liebe zu ihm, nicht um ihretwillen, warnt sie ihn. Er tadelt sie, weil sie sein Verbot übertreten<br />

hat, dann erledigt er der Reihe nach die drei Räuber. Zur Strafe für ihren Ungehorsam befiehlt er Enide, die drei Pferde der<br />

Räuber mitzuführen, und ja kein Wort mehr ohne seinen Befehl zu sprechen. Bald darauf begegnen sie fünf Räubern. Diese<br />

bemerkt sogar Erec, aber er tut, als hätte er sie nicht gesehen. Die Episode verläuft wie die vorhergehende, nur mit einer entsprechenden<br />

Steigerung, und Enide hat dann schon acht Pferde, die sie zur Strafe vor sich hertreiben muss. Als es Abend wird, sucht<br />

Erec kein Quartier, sondern sie übernachten im Freien. Er ist bereit, die Wache zu übernehmen, und fordert sie auf zu schlafen.<br />

Doch sie antwortet, er solle sich ausschlafen, weil er sich in den Kämpfen angestrengt habe, deckt ihn mit ihrem Mantel zu und<br />

übernimmt die Wache. In ihren Selbstgesprächen beschuldigt sie sich immer noch selbst, dass sie ihr Unglück verdient habe,<br />

weil sie so schändliche Worte zu Erec gesprochen hatte. Sie hätte wissen können, dass er in Wirklichkeit nicht einmal fünf Ritter<br />

fürchtet, und nur aus Liebe zu ihr auf das Kämpfen verzichtete. Am nächsten Tag begegnen sie einem Knappen des Grafen<br />

Galoain, der Essen mitführt und ihnen davon gibt. Erec schenkt ihm dafür eines der gefangenen Pferde. Der Knappe verschafft<br />

ihnen Unterkunft im Ort und benachrichtigt seinen Herrn, den Grafen. Der Graf hat nur Augen für Enide, und will sie überreden,<br />

den Mann zu verlassen, der sie dauernd erniedrigt, und seine Freundin zu werden. Erec will er erschlagen. Zum Schein<br />

willigt Enide ein, Erec zu verlassen, und spielt dem geilen Galoain vor, sie wünsche schon, ihn nackt neben sich im Bett zu<br />

spüren, aber nur, damit der Graf seine Pläne auf den nächsten Morgen verschiebt, weil es, so spielt sie listig vor, leichter ist,<br />

53 In ‚Walther von der Vogelweide für Anfänger’ habe ich darauf hingewiesen, dass nicht nur die Kleidergeschenke typische<br />

Belohnungen von Spielleuten sind, sondern auch das engelten der alten schulde.<br />

54 Die Ärmel waren im Mittelalter nur mit Bändern am Kleid befestigt, nicht angenäht. Wie ein Ritter den von der Dame erhaltenen<br />

Ärmel an seinen Schild heftet, zum Zeichen, dass er für sie kämpft, erzählt genauer Wolfram von Eschenbach im 7. Buch<br />

des Parzival.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!