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Literaturgeschichte 750-1500

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Lieht reideloht was im sîn hâr,<br />

Hell lockig war sein Haar,<br />

swâ man daz vor dem huote sach:<br />

wo es unter dem Hut hervorhing:<br />

der was ein tiuwer houbetdach.<br />

der war eine teure Kopfbedeckung.<br />

Grüene samît was der mantel sîn:<br />

Sein Mantel war von grünem Samt;<br />

ein zobel dâ vor gap swarzen schîn,<br />

der schwarzglänzende Zobelbesatz<br />

ob einem hemde daz was blanc.<br />

kontrastierte zu dem weißen Hemd darunter.<br />

Von schouwen wart dâ grôz gedranc.<br />

Viele Zuschauer umdrängten ihn.<br />

Vil dicke aldâ gevrâget wart,<br />

Immer wieder fragte man,<br />

wer wære der ritter âne bart,<br />

wer der bartlose (= noch ganz junge) Ritter sei,<br />

der fuorte alsölhe rîcheit.<br />

der mit solchem Reichtum einherzöge.<br />

Vil schiere wart daz mære breit:<br />

Sehr bald wurde das allgemein bekannt,<br />

si sagetenz in für unbetrogen.<br />

denn seine Begleiter sagten es ihnen wahrheitsgemäß.<br />

Do begunden si an die brücke zogen,<br />

da gelangte der Zug an die Brücke,<br />

andr volc und ouch die sîne.<br />

der ganze Menschenschwarm und auch die Seinigen.<br />

Von dem liehten schîne,<br />

Als Gahmuret den Glanz sah,<br />

der von der künegin erschein,<br />

der von der Königin ausging,<br />

zuct im neben sich sîn bein:<br />

brachte er augenblicklich sein Bein neben sich:<br />

ûf rihte sich der degen wert,<br />

Der Held richtete sich auf<br />

als ein vederspil daz gert.<br />

wie ein Jagdfalke, der auf Beute aus ist.<br />

trecken ‚dahinziehen‘ (treck ‚langer Marsch‘ ist insbesondere das Dahinziehen eines Heeres); vil schilde ‚vieles an Schilden‘<br />

(schilde ist hier Gen. Plur.); dôz ‚Tosen, Getöse‘; dôz mit krache im Nhd. besser partizipial: ‚krachendes Getöse‘; vor im ‚vor<br />

ihm‘: beachten Sie die Lokalisierung der Musiker: die Posaunisten vor ihm, damit sie nicht ihm sondern den anderen in die<br />

Ohren blasen, neben Gahmuret sind die leiseren Fiedler. Das alles sind keine richtigen Witze (ein Witz muss eine Pointe haben),<br />

aber soll zu leisem Schmunzeln anregen – man soll über den Helden nicht lachen, aber lächeln; galm ‚Lärm, Krawall‘; der dôn<br />

wart gemischet: der Ton wurde ‚gemischt‘, weil die einzelnen Instrumentengruppen gleichzeitig spielten (ohne Rücksicht auf<br />

die anderen Gruppen und jede Gruppe etwas anderes, wie heutzutage bei einem Umzug von Musikkapellen, so dass das Publikum<br />

ein Gemisch zu hören bekommt – karikiert von Richard Wagner zu Beginn des letzten Bildes der ‚Meistersinger‘ bei der<br />

Begegnung der Schuster, Schneider und Bäcker, mit den Stadtmusikanten vorneweg); verliesen ‚verlieren‘, ‚wir sollen nicht<br />

verlieren‘ = ‚wir dürfen das nicht übergehen‘; videlære ‚Fiedler‘ (die Fiedel ist Saiteninstrument, eine Art Vorläufer der Geige);<br />

degen ‚Krieger‘ (der Bedeutungswandel zu: ‚eine Waffe, die dieser trägt‘ ist erst nhd.), im Nhd. haben wir insgesamt weniger<br />

Beinahe-Synonyme für ‚Krieger‘, die Übersetzung mit Held ist daher ungenau, denn mhd. helt, recke, degen heißen nur fast,<br />

nicht ganz das selbe; blôziu bein: er trug keine Strümpfe und anscheinend eine ober dem Knie abschließende Hose, damit man<br />

auch etwas Haut sehen und seine schönen Beine bewundern konnte; sîn lîp heißt hier ausnahmsweise wirklich ‚sein Leib‘ und<br />

nicht, wie sonst immer, ‚er‘; reide-loht ‚lockig‘ (reit ‚Falte, Krümmung‘, -loht etwa nhd. -ig); dâ vor: der Besatz ist ‚davor‘ weil<br />

er ein Stück des Mantels verdeckt, dieser wird über dem Hemd getragen; ob ‚ober‘; von schouwen wart dâ grôz gedranc ‚von<br />

Zuschauen wurde da großes Gedränge‘; âne ‚ohne‘; âne bart: Gahmuret ist noch sehr jung, wie die meisten Helden des Romans;<br />

schiere ‚bald‘; mære ‚Nachricht, Neuigkeit, Erzählung‘; breit von der Neuigkeit: sie wird ‚verbreitet‘; si sagetenz in für unbetrogen:<br />

si ‚die Begleiter Gahmurets‘, sagetenz = sageten ez, in ‚ihnen‘ (den Leuten) für unbetrogen ‚ohne Betrug, ehrlich‘;<br />

andr volc ‚die anderen Leute‘ steht hier vor den Seinigen, weil die Neugierigen offensichtlich mehr waren; brücke - künegin:<br />

die Brücke ist offensichtlich die, die zur Burg führt, und die Königin sieht aus dem Fenster; zuct im neben sich sîn bein: bein ist<br />

Subjekt, ‚sein Bein zuckte sich neben ihn‘, er fährt zusammen, reagiert blitzschnell, wir würden sagen, aus dem Rückenmark,<br />

ohne erst denken zu müssen – angesichts der Königin so leger zu sitzen, wäre eine grobe Unhöflichkeit, Gahmuret hat es in<br />

Fleisch und Blut, sich sofort aufzurichten und Haltung einzunehmen; gern ‚begehren‘ (scil. der Falke begehrt die Beute).<br />

Hier merken wir deutlich, wie Wolfram sein ‚Idealbild der Männlichkeit‘ karikiert. Doch bleibt diese Karikatur<br />

durchaus liebevoll; fundamentale Kritik an Gahmuret wird auch jetzt nicht ausgesprochen, aber wer Wolframs<br />

sittliches Programm kennt, merkt sie trotzdem. Vor allem setzt Wolfram Gahmuret nicht in dem Sinn herab, dass er<br />

ihn gegen eine andere, positivere Figur antreten ließe. Man fragt sich bisweilen, ob Wolfram überhaupt je ganz<br />

ohne böse Ironie eine Figur gezeichnet hat (mîn alt unfuoge, „meine alte Bosheit“ sagt er selbstkritisch [gleichzeitig<br />

selbstgefällig] 487,12).<br />

Gahmurets Einzug ist erfolgt. Auch hier bleiben außer der Königin alle Begleiter und Zuseher anonym. Kaylet<br />

erfährt, dass Gahmuret angekommen ist, und ist vor Freude außer sich.<br />

Es bilden sich zwei Turnierparteien. Kaylet erwartet selbstverständlich, dass sein Cousin Gahmuret seine<br />

Turnierpartei gegen die von König Hardiz von der Gascogne und vom Herzog Lämbekin von Brabant angeführte<br />

Gegenpartei unterstützen wird. Diese beiden sind auf Kaylet böse, weil Kaylet Hardiz‘ Schwester, Lämbekins späterer<br />

Frau, Minnedienst geleistet und auch Minnelohn von ihr empfangen hatte. 67 Kaylet hatte dann aber eine Cousine<br />

Herzeloydes geheiratet.<br />

Was sind die Gründe der Ritter für die Teilnahme am Turnier?<br />

Nach dieser Einführung Kaylets erwarten wir, dass er hier ist, um um Herzeloydes Hand zu kämpfen. Doch ist er,<br />

erfahren wir später, verheiratet, sogar mit ihrer Cousine, und nimmt nur um der Ehre willen an dem Turnier teil.<br />

Ähnlich scheint es auch mit den anderen Standespersonen unter den Teilnehmern zu sein: eigentlich sind fast alle,<br />

die Wolfram namentlich aufzählt, schon verheiratet; dass einer sich offen als Bewerber ausgibt, wird überhaupt<br />

nicht gesagt. Der Widerspruch wird von Wolfram nicht ausgesprochen, aber besonders augenfällig demonstriert,<br />

dass ein Ritter an einem Turnier teilnimmt, ohne vorher nach dessen Zweck zu fragen; nur um des Vergnügens<br />

67 Das Verständnis für Minnedienst und vor allem Minnelohn hörte bei den Frauen des eigenen Clans auf.<br />

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