Literaturgeschichte 750-1500
Literaturgeschichte 750-1500
Literaturgeschichte 750-1500
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
nicht umgebracht zu werden, griff er zu einer List: er gab nicht nur sich als Kaufmann aus und verkaufte den Iren seine Getreidevorräte,<br />
sondern er sagte, er sei der erste von 12 Kaufleuten, die ihr Getreide den Iren verkaufen wollten; die anderen warteten<br />
noch ab, wie es dem ersten erginge, und ob er heil zurückkehre. So konnten die Iren nicht in Versuchung kommen, ihn nach<br />
vollbrachtem Handel zu erschlagen. Da hörte Tristrant, dass ein Drache das Reich verwüste, und dass der König dem die Hand<br />
seiner Tochter versprochen hätte, der den Drachen besiege. Tristrant beschloß aus zwei Gründen, sein Leben in diesem Kampf<br />
zu riskieren: wegen der schönen Frau, und um den Grimm des Königs zu besänftigen, damit er heil weiterreisen könne. 83<br />
Tristrant bestand den Drachen, wurde jedoch vom Feueratem des Ungeheuers fast verbrannt. So schnitt er zum Zeichen seiner<br />
Tat dem Drachen nur die Zunge aus dem Maul und nahm sie zum Zeichen seiner Tat mit. Die Hitze, die vom Feueratem ausgegangen<br />
war, und die Giftdämpfe der Drachenzunge setzten ihm zum und er suchte in einem Moor (deren gibt es in Irland viele)<br />
Kühlung. Dort wurde er ohnmächtig. Der betrügerische Truchseß des Königs fand den toten Drachen und ließ sich von seinen<br />
Gefährten als Töter des Drachen ausgeben. Isalde, die wußte, dass der Truchseß feig und verlogen war, traute ihm eher zu, den<br />
echten Drachentöter ermordet, als das Ungeheuer besiegt zu haben. Vor allem wollte sie nie und nimmer seine Frau werden.<br />
Also machte sie sich mit ihrer Dienerin Brangene und dem Knappen Perenis auf die Suche. Sie fanden den ohnmächtigen<br />
Tristrant, erkannten in ihm den Drachentöter und pflegten ihn heimlich gesund. Als Tristrant wieder bei Kräften war, betrachtete<br />
er das Haar seiner Ärztin und erkannte, dass es genau das Haar war, das er für seinen Onkel suchte, und mußte darüber lachen.<br />
Isalde wußte nicht, wieso, und aus Verlegenheit begann sie, sein blutiges Schwert abzuwaschen. Da erkannte sie an der<br />
Scharte in seinem Schwert, dass er der Mörder ihres Onkels war. Nun entspinnt sich folgendes Zwiegespräch (1893ff.):<br />
Sie sprach: „Du bist Tristrant und hast den Drachen erschlagen. Doch das hilft dir gar nichts! Du kommst nicht mit dem Leben<br />
davon! Mir dem deinen mußt du das Leben meines Oheims bezahlen! Ich werde dich vor meinem Vater, dem König, entlarven!<br />
Er sprach: „Nein, Frau Königin!“<br />
„Du hast mir Böses angetan.“<br />
„Nein, das tat ich wirklich nicht.“<br />
„Du hast doch meinen Onkel erschlagen.“<br />
„Es geschah doch in Notwehr!“<br />
„Das sollst du wissen: du mußt für ihn büßen.“<br />
„Womit?“<br />
„Mit deinem Leben.“<br />
„Es ist nicht Sitte, Leben mit Leben zu vergelten. Nein, schöne, zarte Frau, warum sollte grad ich dies erfahren müssen?“<br />
„Ja, du!“ ...<br />
(T.) „Das ist doch nicht die Art edler Frauen!“<br />
„Doch ich bin böse auf Euch!“<br />
„Seid Ihr das?“<br />
„Ja.“<br />
„Darüber bin ich traurig.“<br />
„Warum denn?“ ...<br />
(T.) „Wäret Ihr edelmütig, würdet Ihr bei Euch dies überlegen: ‚Er ist in meinem Schutz und zudem mein Gefangener. Wenn ihn<br />
jemand erschlägt, werde ich es rächen.‘ Bedenkt doch, Ihr habt mich selbst hierhergebracht“...<br />
(I.) „All deine Ränke retten dich nicht! Du mußt für meinen Oheim büßen!“<br />
Brangene erinnerte sie schließlich daran, dass sie den Truchsessen heiraten müßte, falls der König Tristrant erschlüge. Da<br />
küßte sie ihn zum Zeichen der Versöhnung auf seinen Mund und eilte zu ihrem Vater mit der Nachricht, dass sie den richtigen<br />
Drachentöter gefunden habe. Sie brachte ihn auch dazu, Tristrant den Tod seines Schwagers zu verzeihen. An ihrer Hand<br />
führte sie Tristrant vor den König. In aller Öffentlichkeit konnte Tristrant mit der Drachenzunge beweisen, dass er den Drachen<br />
erschlagen hatte. Nun war der König auch bereit, sein Versprechen bezüglich der Hand seiner Tochter einzulösen. Da brachte<br />
Tristrant zur allseitigen Überraschung seine Werbung für Marke vor. Der König fand das für gut, denn wenn Tristrant selbst<br />
sie heiraten würde, meinte der König, würde die Ehe doch nicht gut gehen, weil sie sich immer an das Leid erinnern würde, dass<br />
Tristrant ihren Onkel getötet hatte. Der König legte Isaldes Hand in die Tristrants und befahl sie damit in seine Obhut. Tristrant<br />
ergriff fest die Hand der Jungfrau. 84<br />
Der Liebestrank<br />
Isaldens Mutter aber gab Brangene einen Trank, den Isalde mit Marke trinken sollte. Um den Trank stand es so: Wenn ein<br />
Mann und eine Frau gemeinsam davon tranken, konnten sie vier Jahre lang nicht mehr voneinander lassen. Ihr Leben lang<br />
waren sie einander mit ganzem Herzen in Liebe verbunden. Vier Jahre aber war ihre Liebe so übermächtig groß, dass sie<br />
auch nicht einen einzigen Tag ohne einander leben konnten. Sie mußten einander täglich sehen, und wenn sie einander eine<br />
Woche nicht sprechen konnten, so bewirkte der Trank, dass sie erkrankten, schließlich sogar starben. Ohne Isaldes oder<br />
Tristrants Wissen nahm Brangene den Trank mit, als sie nach Cornwall aufbrachen. Ein günstiger Wind trieb sie schnell dem<br />
Ziel zu, doch Isalde, die noch nie eine Schiffsreise gemacht hatte, klagte, dass die rasche Fahrt ihr Beschwerden bereite.<br />
Wunschgemäß legte sich der Wind und trieb sie in einen Hafen, wo sie eine Stunde spazieren gingen, jeder wo es ihm gefiel.<br />
Dann begab Tristrant sich zu seiner Herrin, um zu fragen, ob sie schon weiterreisen könne. Es war heiß, und Tristrant plagte der<br />
Durst. Doch, da das Gefolge frei hatte und an Land gegangen war, war der Mundschenk nicht zur Hand; nur ein Jungfräulein<br />
(aus dem Gefolge Isaldes) wußte, wo ein Fläschchen stand – mit Wein, wie sie glaubte. Er ließ sie es holen, trank und bot auch<br />
seiner Herrscherin. Als beide getrunken hatten, überkam sie heißes Liebesverlangen, und sie glaubten den Verstand zu verlieren,<br />
wenn sie es nicht stillen könnten. Doch wußte keines, dass es dem anderen ebenso ging.<br />
97<br />
83 Er glaubte ja noch, auf Werbungsfahrt für seinen Onkel durch die ganze Welt fahren zu müssen. Dass er die Frau für sich<br />
selbst erwerben will, steht der Fortsetzung der Werbungsfahrt ja nicht im Wege, solange er noch nicht weiß, dass es die für den<br />
Onkel gesuchte ist.<br />
84 Beachten Sie die Darstellungsmittel: I küßt T auf den Mund, führt ihn an der Hand zu ihrem Vater, doch auf Ts Wunsch gibt<br />
der König sie in seine Hand, damit er sie Marke überbringe ... Überlegen Sie die möglichen Symbolbedeutungen der ‚Hand’ in<br />
den Kontexten.