Literaturgeschichte 750-1500
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Sô wære er ungern’ anderswâ.<br />
Ungerne wäre er anderswo.<br />
Ditz weiz ich wol, wan ich was dâ. Das weiß ich wohl, denn ich war da.<br />
Ich hân ouch in der wilde<br />
Ich bin auch in der Wildnis<br />
dem vogele unde dem wilde,<br />
den Vögeln und dem Wild,<br />
dem hirze unde dem tiere<br />
dem Hirsch und den Tieren<br />
über manege waltreviere<br />
durch viele Waldreviere<br />
gevolget unde nâch gezogen<br />
nachgefolgt,<br />
und aber die stunde alsô betrogen, habe aber meine Zeit so verschwendet,<br />
daz ich den bast noch nie gesach. dass ich noch nie dazu kam, das erlegte Wild zu entbasten (weidgerecht<br />
Mîn arbeit und mîn ungemach<br />
abzuhäuten). Meine Arbeit und Mühe<br />
daz was ân âventiure.<br />
waren ohne glücklichen Erfolg.<br />
Ich vant an der fossiure<br />
Ich fand an der Grotte<br />
den haft und sach die vallen.<br />
den Hebel und sah die Schnalle.<br />
Ich bin ze der kristallen<br />
Ich bin zu dem kristallenen Bett<br />
ouch under stunden geweten.<br />
manchmal auch geschritten.<br />
Ich han den reien getreten<br />
Ich habe dort oft Reigen getanzt,<br />
dicke dar und ofte dan,<br />
hin und her,<br />
i’ n geruowete aber nie dar an: aber nie darauf geruht:<br />
und aber der esterîch dâ bî,<br />
und den Estrich daneben,<br />
swie herte marmelîn er sî,<br />
aus wie hartem Marmor er sein mag,<br />
den hân ich sô mit triten zerbert,<br />
habe ich so getreten,<br />
hæt’ in diu grüene niht ernert,<br />
dass, wenn ihn nicht sein Grün gerettet hätte,<br />
an der sîn meistiu tugent lît,<br />
das seine größte Tugend darstellt,<br />
von der er wahset alle zît:<br />
durch die er sich immerfort erneuert,<br />
man spurte wol dar inne<br />
man könnte an ihm wohl die wahre Spur der Minne erkennen (‚spüren‘)<br />
diu wâren spur der minne.<br />
Ouch hân ich an die liehten want Auch habe ich meine Augen oft auf der hellen<br />
mîner ougen weide vil gewant<br />
Wand weiden lassen<br />
und hân mich obene an daz gôz,<br />
und habe das Gemäuer oben, das Gewölbe<br />
an daz gewelbe und an daz slôz<br />
und den Schlußstein<br />
mit blicken vil geflizzen,<br />
gut betrachtet,<br />
mîner ougen vil verslizzen<br />
und meine Augen angestrengt<br />
an der gezierde dar obe,<br />
bei der Betrachtung der Zier dort oben,<br />
diu sô gestirnet ist mit lobe.<br />
die so berühmt ist.<br />
Diu sunne bernde vensterlîn,<br />
Die sonnenbringenden Fenster<br />
diu habent mir in daz herze mîn<br />
haben mir oft ihren Glanz ins Herz gesandt.<br />
ir gleste dicke gesant.<br />
Ich hân die fossiure erkant<br />
Ich kenne die Grotte schon<br />
sît meinen eilif jâren ie<br />
seit meinem zwölften Lebensjahr (ich 11 J. alt war),<br />
und enkom ze Kurnewâle nie.<br />
ohne je nach Cornwall gekommen zu sein.<br />
Dass Gottfried von sich sagt, dass er auch schon auf die Art wie Tristan und Isolde gelebt hat, und in dieser Zeit<br />
keine irdische Nahrung brauchte, und dass er sagt, dass die Minnegrotte in Cornwall sei, dass er aber selbst schon<br />
in der Minnegrotte gewesen sei, ohne je in Cornwall gewesen zu sein, hat eine wichtige Funktion, aber nicht die,<br />
uns über Gottfrieds Liebesleben aufzuklären, im Sinne einer autobiographischen Mitteilung ans Publikum,<br />
sondern eindeutig festzulegen, dass es sich um eine Allegorie handelt – sonst wären die genannten Dinge ja unmöglich.<br />
Wenn Gottfrieds Erzähler sich von Tristan und Isolde einerseits, von Marke anderseits abhebt, so kann<br />
seine Position zwischen den beiden nur den Sinn haben: der nicht Liebende, Marke, kann nicht in die Minnegrotte.<br />
Die idealen Liebenden vermögen nicht nur hineinzukommen, sondern auch auf dem kristallenen Bett zu ruhen;<br />
wenn es also Menschen gibt, die zwar hineinkommen, aber nicht so weit wie die beiden, so mag das nicht nur für<br />
den Erzähler gemeint sein, sondern soll vielleicht ausdrücken, dass es für die meisten ‚normalen‘ Menschen gilt.<br />
Das was ‚Gottfried‘ (oder unsereins) schwer fällt, ist anscheinend die Eigenschaft, die mit dem Estrich verbunden<br />
ist, und das ist, erklärt Gottfried, die Beständigkeit.<br />
Die Allegorie der Minnegrotte hat viele Rätsel aufgegeben. Friedrich RANKE hat weitgehend Zustimmung gefunden,<br />
dass die religiöse Parallele der Allegorie des Gotteshauses deutlich ist, auch auf die Rolle, die das Bett<br />
Salomos im Hohen Lied als Ort der mystischen Vereinigung von Bräutigam und Braut spielt, wurde verwiesen.<br />
Psychoanalytische Deutungen haben die Grotte in Analogie zu den weibliche Geschlechtsorganen gesehen, wobei<br />
aber zahlreiche Einzelheiten unerklärt bleiben (etwa die drei Linden über der Grotte). Und was bedeuten die persönlichen<br />
Hinweise Gottfrieds? Sollen wir es als autobiographische Mitteilung nehmen, dass bei ihm im 12. Lebensjahr<br />
die Pubertät begann, er zwar Liebeserlebnisse mit Frauen gehabt hat, die aber zu keiner glücklichen dauernden<br />
Vereinigung führten? Oder soll dieses „Ich“ nicht besser von der Person Gottfrieds ablösbar sein und nur die<br />
prinzipielle Deutbarkeit als Station des Menschenlebens vor Augen führen? – Mit der Formulierung „ablösbar“<br />
soll gezeigt werden, dass Ich-Aussagen in der Dichtung natürlich auch auf den Autor zutreffen können, doch sollte<br />
man sie trotzdem von der Person losgelöst betrachten, weil es uns nicht so sehr darum geht, ob der Autor die Figur<br />
eines Erzählers einführt, der von sich „Ich“ sagt, oder ob der Autor von sich selbst den Zuhörern Wahrheit oder<br />
Fiktion berichtet, es geht darum, warum und wozu er so eine persönliche Bemerkung einschiebt. Und das „Ich war