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Literaturgeschichte 750-1500

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114<br />

Sô wære er ungern’ anderswâ.<br />

Ungerne wäre er anderswo.<br />

Ditz weiz ich wol, wan ich was dâ. Das weiß ich wohl, denn ich war da.<br />

Ich hân ouch in der wilde<br />

Ich bin auch in der Wildnis<br />

dem vogele unde dem wilde,<br />

den Vögeln und dem Wild,<br />

dem hirze unde dem tiere<br />

dem Hirsch und den Tieren<br />

über manege waltreviere<br />

durch viele Waldreviere<br />

gevolget unde nâch gezogen<br />

nachgefolgt,<br />

und aber die stunde alsô betrogen, habe aber meine Zeit so verschwendet,<br />

daz ich den bast noch nie gesach. dass ich noch nie dazu kam, das erlegte Wild zu entbasten (weidgerecht<br />

Mîn arbeit und mîn ungemach<br />

abzuhäuten). Meine Arbeit und Mühe<br />

daz was ân âventiure.<br />

waren ohne glücklichen Erfolg.<br />

Ich vant an der fossiure<br />

Ich fand an der Grotte<br />

den haft und sach die vallen.<br />

den Hebel und sah die Schnalle.<br />

Ich bin ze der kristallen<br />

Ich bin zu dem kristallenen Bett<br />

ouch under stunden geweten.<br />

manchmal auch geschritten.<br />

Ich han den reien getreten<br />

Ich habe dort oft Reigen getanzt,<br />

dicke dar und ofte dan,<br />

hin und her,<br />

i’ n geruowete aber nie dar an: aber nie darauf geruht:<br />

und aber der esterîch dâ bî,<br />

und den Estrich daneben,<br />

swie herte marmelîn er sî,<br />

aus wie hartem Marmor er sein mag,<br />

den hân ich sô mit triten zerbert,<br />

habe ich so getreten,<br />

hæt’ in diu grüene niht ernert,<br />

dass, wenn ihn nicht sein Grün gerettet hätte,<br />

an der sîn meistiu tugent lît,<br />

das seine größte Tugend darstellt,<br />

von der er wahset alle zît:<br />

durch die er sich immerfort erneuert,<br />

man spurte wol dar inne<br />

man könnte an ihm wohl die wahre Spur der Minne erkennen (‚spüren‘)<br />

diu wâren spur der minne.<br />

Ouch hân ich an die liehten want Auch habe ich meine Augen oft auf der hellen<br />

mîner ougen weide vil gewant<br />

Wand weiden lassen<br />

und hân mich obene an daz gôz,<br />

und habe das Gemäuer oben, das Gewölbe<br />

an daz gewelbe und an daz slôz<br />

und den Schlußstein<br />

mit blicken vil geflizzen,<br />

gut betrachtet,<br />

mîner ougen vil verslizzen<br />

und meine Augen angestrengt<br />

an der gezierde dar obe,<br />

bei der Betrachtung der Zier dort oben,<br />

diu sô gestirnet ist mit lobe.<br />

die so berühmt ist.<br />

Diu sunne bernde vensterlîn,<br />

Die sonnenbringenden Fenster<br />

diu habent mir in daz herze mîn<br />

haben mir oft ihren Glanz ins Herz gesandt.<br />

ir gleste dicke gesant.<br />

Ich hân die fossiure erkant<br />

Ich kenne die Grotte schon<br />

sît meinen eilif jâren ie<br />

seit meinem zwölften Lebensjahr (ich 11 J. alt war),<br />

und enkom ze Kurnewâle nie.<br />

ohne je nach Cornwall gekommen zu sein.<br />

Dass Gottfried von sich sagt, dass er auch schon auf die Art wie Tristan und Isolde gelebt hat, und in dieser Zeit<br />

keine irdische Nahrung brauchte, und dass er sagt, dass die Minnegrotte in Cornwall sei, dass er aber selbst schon<br />

in der Minnegrotte gewesen sei, ohne je in Cornwall gewesen zu sein, hat eine wichtige Funktion, aber nicht die,<br />

uns über Gottfrieds Liebesleben aufzuklären, im Sinne einer autobiographischen Mitteilung ans Publikum,<br />

sondern eindeutig festzulegen, dass es sich um eine Allegorie handelt – sonst wären die genannten Dinge ja unmöglich.<br />

Wenn Gottfrieds Erzähler sich von Tristan und Isolde einerseits, von Marke anderseits abhebt, so kann<br />

seine Position zwischen den beiden nur den Sinn haben: der nicht Liebende, Marke, kann nicht in die Minnegrotte.<br />

Die idealen Liebenden vermögen nicht nur hineinzukommen, sondern auch auf dem kristallenen Bett zu ruhen;<br />

wenn es also Menschen gibt, die zwar hineinkommen, aber nicht so weit wie die beiden, so mag das nicht nur für<br />

den Erzähler gemeint sein, sondern soll vielleicht ausdrücken, dass es für die meisten ‚normalen‘ Menschen gilt.<br />

Das was ‚Gottfried‘ (oder unsereins) schwer fällt, ist anscheinend die Eigenschaft, die mit dem Estrich verbunden<br />

ist, und das ist, erklärt Gottfried, die Beständigkeit.<br />

Die Allegorie der Minnegrotte hat viele Rätsel aufgegeben. Friedrich RANKE hat weitgehend Zustimmung gefunden,<br />

dass die religiöse Parallele der Allegorie des Gotteshauses deutlich ist, auch auf die Rolle, die das Bett<br />

Salomos im Hohen Lied als Ort der mystischen Vereinigung von Bräutigam und Braut spielt, wurde verwiesen.<br />

Psychoanalytische Deutungen haben die Grotte in Analogie zu den weibliche Geschlechtsorganen gesehen, wobei<br />

aber zahlreiche Einzelheiten unerklärt bleiben (etwa die drei Linden über der Grotte). Und was bedeuten die persönlichen<br />

Hinweise Gottfrieds? Sollen wir es als autobiographische Mitteilung nehmen, dass bei ihm im 12. Lebensjahr<br />

die Pubertät begann, er zwar Liebeserlebnisse mit Frauen gehabt hat, die aber zu keiner glücklichen dauernden<br />

Vereinigung führten? Oder soll dieses „Ich“ nicht besser von der Person Gottfrieds ablösbar sein und nur die<br />

prinzipielle Deutbarkeit als Station des Menschenlebens vor Augen führen? – Mit der Formulierung „ablösbar“<br />

soll gezeigt werden, dass Ich-Aussagen in der Dichtung natürlich auch auf den Autor zutreffen können, doch sollte<br />

man sie trotzdem von der Person losgelöst betrachten, weil es uns nicht so sehr darum geht, ob der Autor die Figur<br />

eines Erzählers einführt, der von sich „Ich“ sagt, oder ob der Autor von sich selbst den Zuhörern Wahrheit oder<br />

Fiktion berichtet, es geht darum, warum und wozu er so eine persönliche Bemerkung einschiebt. Und das „Ich war

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