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Literaturgeschichte 750-1500

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KÖHLER‘schen Methode auf die deutsche Literatur die Hauptursache dafür ist; einen vernünftigen Grund dafür, das<br />

Thema ‚Textauslegung und gesellschaftliche Selbstdeutung‘ ausgerechnet von Hartmanns ‚Erec‘ ausgehen zu lassen,<br />

kann ich nicht finden. Zwar ist es eine andere Frage, ob ein Autor Identifikationsanreize bieten will, und ob<br />

diese auch tatsächlich angenommen werden (könnte man zur Verteidigung Gert KAISERs sagen). Doch wenn uns<br />

ein Beweis für das Letztere fehlt, ist schwer auszumachen, ob das, was wir dafür halten, tatsächlich als Identifikationsangebot<br />

für ein bestimmtes Publikum gemeint war.<br />

Wer Gönner Hartmanns gewesen sein könnte, ist schwer auszumachen. Seine Selbstnennung im Armen Heinrich<br />

dienestman was er ze Ouwe wurde darauf bezogen, dass er Dienstmann (Ministeriale) eines Herrn in einem<br />

Ort namens Aue gewesen sei. Doch nennen sich Ministeriale öfters nach ihrem eigenen Sitz als dem ihres Dienstherrn;<br />

man braucht nach keinem großen Aue zu suchen, auch ein kleines, unbedeutendes Nest dieses Namens im<br />

alemannischen Gebiet kann seine Heimat gewesen sein. Und Dienstherr kann jede Herrschaft im alemannischen<br />

Raum gewesen sein. Auch eine geistliche Herrschaft (ein Kloster o. dgl.; manche dachten wegen der lebendigen<br />

Schilderung des Gespräches zwischen dem Abt und dem jungen Gregorius, der sich zwischen Rittertum und<br />

Klosterleben entscheiden muss, an das Kloster Reichenau im Bodensee) kann nicht ausgeschlossen werden. Man<br />

hat manchmal an die Staufer gedacht, die ja in Schwaben zu Hause sind; noch öfter aber an die Herzoge von Zähringen<br />

(bei Freiburg im Bresgau), die auch rege Kontakte mit Frankreich hatten und eventuell eine Chrestien-<br />

Handschrift als Vorlage beschaffen konnten. Im Gregorius Hartmanns wird z. B. der Hennegau genannt; der Herzog<br />

von Zähringen hat etwa zu dieser Zeit Beziehungen dorthin gehabt. Aber davon kann auch jemand gehört haben,<br />

der weder zähringischer Ministeriale noch auf dieser Reise mit war; die Nennung des Hennegaus könnte auch<br />

zufällig sein. Methodisch gesehen, erfahren wir über den Raum, in dem Autor und Publikum sich auskannten, viel<br />

mehr, wenn etwa im Nibelungenlied ein Ort wie Zeiselmauer genannt wird, als wenn Hartmann im Gregorius den<br />

weithin bekannten Hennegau nennt. Was die Zuordnung Hartmanns zu einem Hof betrifft, so handelt es sich nur<br />

um Hypothesen, deren Wahrscheinlichkeitsgrad kaum angegeben werden kann. Man hat auch an sehr kleine Herrschaften<br />

gedacht.<br />

Jedenfalls muss Hartmann schon gut Französisch gekonnt haben, bevor ihn jemand zu seinen Chrestien-Übersetzungen<br />

anregte. Auch scheint er Kenntnisse der Artussage über seine direkte Vorlage hinaus besessen zu haben:<br />

Geoffreys Schilderung von Artus‘ Pfingstfest ist etwa in Hartmanns Iwein noch recht gut erkenntlich:<br />

Do man des pfingestages enbeiz,<br />

männeclîch im die vreude nam<br />

der in dô aller beste gezam.<br />

Dise sprâchen wider diu wîp,<br />

dise banecten den lîp,<br />

dise tanzten, dise sungen,<br />

dise liefen, dise sprungen,<br />

dise hôrten seitspil,<br />

dise schuzzen zuo dem zil,<br />

dise redten von seneder arbeit,<br />

dise von grôzer manheit.<br />

en-bîzen ‚einen Imbiß nehmen, essen‘; enbeiz Präteritum, hier vorzeitig (Neuhochdt. Plusquamperfekt: ‚nachdem man gegessen<br />

hatte‘), im ‚ihm‘, hier reflexiv: ‚sich‘; ge-zemen ‚ziemen, sich (für jemanden) gehören‘; wider ‚gegen‘; wider diu wîp sprechen<br />

‚die Frauen ansprechen‘; baneken ‚müßig gehen‘; sene ‚Liebessehnsucht‘; arbeit ‚Mühe‘; senede arbeit ‚Liebesqual‘.<br />

Am Pfingsttag widmete sich nach dem Essen jeder dem Vergnügen, das ihm am besten paßte. Manche unterhielten sich mit den<br />

Frauen, manche trieben Müßiggang, manche tanzten, manche sangen, manche liefen, manche sprangen, manche hörten Musik<br />

auf Saiteninstrumenten, manche übten sich im Zielschießen, manche erzählten von Liebesmüh, manche von tapferen Taten.<br />

Alle diese Vergnügen finden sich schon in der Wace‘schen Bearbeitung von Geoffreys Schilderung des<br />

Pfingstfestes von Caerleon, die auch Chrestien zum Vorbild gedient hat (bei Geoffrey selbst nur ein Teil). Chrestien<br />

hat hier aber stärker gekürzt als Hartmann. Gar keine Entsprechung bei Chrestien hat Hartmann 67-70:<br />

Dise tanzten, dise sungen,<br />

diese tanzten, diese sangen,<br />

dise liefen, dise sprungen,<br />

diese liefen, diese sprangen,<br />

dise schuzzen zuo dem zil,<br />

diese übten Zielschießen,<br />

dise hôrten seitspil<br />

diese hörten bei Saitenspiel zu<br />

Das heißt, Hartmann muss neben dem Chrestien-Text noch den Brut von Wace gekannt haben. Ein ähnliches<br />

Problem findet sich auch im Erec: Der Weg zur Joie de la Curt zweigt an einer Weggabelung vom Weg zum Artushof<br />

ab. Dasselbe Motiv enthält die kymrische Übersetzung des Erec, die man nicht von Hartmann abhängig<br />

machen kann. Wir wissen nicht, woher Hartmann seine Französischkenntnisse besaß, aber anders als durch einen<br />

Aufenthalt im Land konnte man sie damals kaum erwerben. Gelegenheiten, nach Frankreich zu kommen, gab es<br />

damals nicht nur im Gefolge eines weltlichen Herrn (des Zähringers oder eines andern), sondern auch im Dienst der<br />

Kirche oder zum Studium an französischen Universitäten. In Südwestdeutschland sind wir außerdem nicht weit von<br />

der Sprachgrenze; es gab vielleicht mehr Möglichkeiten für Hartmann, Französisch zu lernen, und auch an französische<br />

Handschriften zu kommen, als wir uns ausdenken können.<br />

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