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Literaturgeschichte 750-1500

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PSYCHOANALYSE UND NIBELUNGENLIED<br />

Zum Nibelungenlied habe ich selbst viel veröffentlicht; mein neuestes Buch dazu können Sie in der Fachbibliothek<br />

und in der Lehrbuchsammlung lesen. Ich empfehle Ihnen besonders das Kapitel<br />

IV. Literatur, Psychologie und Liebe (S. 396ff.).<br />

Den Originaltext sollte man von einem der hervorragendsten Werke der Weltliteratur gelesen haben. Ich habe<br />

meiner Ausgabe keine Übersetzung beigefügt, denn jede Übersetzung zerstört den Stilwert des Originals, aber dafür<br />

im Internet Lesehilfen bereitgestellt. Wenn Sie meine Homepage anklicken, werden Sie von dort weitergeführt.<br />

Aufgabe 1: Versuchen Sie, sich klarzumachen, was die Figur ‚Siegfried‘ für das Nibelungenlied bedeutet.<br />

Aufgabe 2: Versuchen Sie, eine Inhaltsangabe des Nibelungenlieds herzustellen, die auf die Führung des Lesers<br />

durch den Erzähler Rücksicht nimmt. Das geht nicht, wenn Sie eine der gedruckten Inhaltsangaben abschreiben; da<br />

finden Sie Z. B. oft gleich im ersten Satz Siegfried genannt; aber wo kommt er wirklich vor? Sie müssen es selbst<br />

lesen und dann entscheiden, was Sie für so wichtig halten, dass es in eine Inhaltsangabe gehört. Diese ist eine ganz<br />

wichtige Übung: Inhaltsangaben zu verfassen, die das Werk nicht verzerren, gelingt den wenigsten Literaturgeschichtsschreibern<br />

(nicht nur für das Nibelungenlied; wenn Sie von einem beliebigen Roman zuerst eine Inhaltsangabe<br />

lesen und dann das Original, erleben Sie meistens Ihre Wunder. Angehenden Germanisten sollte das zu denken<br />

geben).<br />

Sozialstruktur<br />

Die literarische Version der Zeit um 1200 thematisiert anhand der Personen unterschiedliche Konzepte feudaler<br />

Gesellschaft: Siegfried verkörpert einen Herrschertyp, dessen Herrschaft auf körperlicher Stärke beruht, aber auch<br />

auf ererbtem königlichem Rang und der Akzeptanz der Gefolgsleute, die er sich durch weise Urteile verdient.<br />

König Gunther repräsentiert einen Herrscher, dessen Macht sich auf Familienangehörige und Ministeriale stützt,<br />

und der den Kampf um Herrschaft delegiert. Dietrich von Bern und Etzel wirken durch eine Autorität, die zum Teil<br />

auf dem Einsatz ihrer kräftigen Stimme beruht. Dazu kommt bei Dietrich, dass er nicht nur die Rechte des Herrn<br />

über die Gefolgschaft wahrnimmt, sondern bereit ist, seinen Leuten dafür auch Schutz angedeihen zu lassen, und<br />

aus der Wechselseitigkeit des Treueverhältnisses Ernst macht. Dietrich beweint den Tod seiner Leute, auch wenn<br />

sie ihn selbst verschuldeten, auch aus Mitleid mit ihnen und nicht nur als sein Unglück, dass er dadurch<br />

Gefolgsleute verlor (im Gegensatz zu Gunther, der nur erzürnt, dass man ihn der Gefolgsleute beraubt, wenn sie<br />

erschlagen werden, aber keine Trauer über ihren Tod zeigt). Bei Etzel kommt zur Autorität Toleranz hinzu (er<br />

duldet Christen und Heiden neben einander an seinem Hof) und die Bereitschaft, Vertriebenen aus vielen Ländern<br />

Gastfreundschaft zu gewähren. Der zentrale Konflikt ist der zwischen Vasallität, die Unterordnung und Gehorsam<br />

verlangt, und einer modernisierten Feudalherrschaft, die nicht mehr oder nur zum Teil auf dem Lehnswesen fußt.<br />

So sehen es jedenfalls derzeit viele Interpreten; da Begriffe wie „Vasallität“ und „Ministerialität“ im<br />

Nibelungenlied nicht genannt werden, sondern nur das Ergebnis von Interpretationen sind, ist diese Sichtweise stark<br />

umstritten. Der Begriff ‚Vasall‘ wird in Deutschland im Hochmittelalter fast nie (mehr) gebraucht; er trifft<br />

eigentlich nur auf die Verhältnisse in Frankreich zu, von denen sich die deutschen auch um 1200 ziemlich stark<br />

unterscheiden. Während die Ministerialität um 1200 gerade nicht aus der Verwandtschaft der Herrscher kam, sind<br />

am Wormser Hof die bedeutendsten Positionen durch Verwandte der Könige besetzt (Hagen von Tronje, Dankwart,<br />

Ortwin von Metz). Die soziale Welt des Nibelungenliedes gibt sich, zumindest teilweise, archaisch. Vor allem in<br />

der Denkwelt Hagens ist ein zentraler Begriff ‚mitfolgen‘, das heißt, der Gefolgsmann muss mit dem Herrn<br />

mitkommen (auf Reisen oder Kriegszüge), wenn dieser es befiehlt. Dem Namen nach ist also das alte<br />

Gefolgschaftswesen noch lebendig, wenn es sich auch inhaltlich stark vom sogenannten ‚altgermanischen<br />

Gefolgschaftswesen‘ unterscheidet.<br />

Geschlechterrollen im Nibelungenlied<br />

Auch die Geschlechterrollen werden problematisiert: Die Wormser Könige werden nicht als solche eingeführt,<br />

sondern in ihrer Eigenschaft als Vormunde ihrer Schwester Kriemhild, der Hauptfigur. Sie steht nach dem Tod des<br />

Vaters zunächst unter der Vormundschaft der Brüder, nach ihrer Verheiratung unter der des Gatten. Ihre<br />

Schwägerin Brünhild akzeptiert die Vorherrschaft des Mannes nur, wenn er sie besiegen kann, dann aber<br />

vollständig. Im Gegensatz dazu akzeptiert Kriemhild die Geschlechterrollen zunächst vollständig, obwohl sie<br />

mehrfach mit ihnen Schwierigkeiten hat: Als sie anlässlich ihrer Eheschließung verlangt, dass ihr, als einem von<br />

vier Kindern des verstorbenen Vaters, die Brüder einen Anteil am Erbe herausgeben, sind alle Männer dagegen,<br />

auch ihr Gatte Siegfried. Vor allem für Hagen ist es unvorstellbar, dass er in Zukunft Gefolgsmann einer Frau<br />

werden könnte. Es ist ererbte Verpflichtung seiner Familie, ‚den Königen‘ zu dienen. Dass das einmal eine Frau<br />

sein könnte, ist für ihn undenkbar. Er fühlt sich durch dieses Ansinnen von Kriemhild schwer beleidigt. Trotzdem<br />

ordnet Kriemhild sich zunächst unter; sogar das Züchtigungsrecht des Gatten akzeptiert sie (als Siegfried sie zur<br />

Strafe verprügelt, weil sie Brünhild beleidigte). Erst als ihr nicht nur der Gatte ermordet wird, sondern dann auch<br />

noch ihr Vermögen, durch fortgesetzten gemeinen Betrug, geraubt, und die Brüder in diesem Konflikt immer mehr<br />

zu Hagen halten, aus Treue zum Gefolgsmann, die sie höher werten als die Treue zur Schwester, wächst sie aus<br />

dieser Rolle heraus: „Wenn ich ein Ritter wäre“, wünscht sie sich (Strophe 1413 der Fassung „B“). Als sie<br />

schließlich ganz die Rolle der Frau verlässt und selbst zum rächenden Schwert greift, mit dem sie Hagen den Kopf<br />

abschlägt, kann das die Männerwelt nicht ertragen: Obwohl Hildebrand selbst Hagen zu erschlagen versucht hatte,

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