Literaturgeschichte 750-1500
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54<br />
ungeheuer, die mich mit ihrem Feuer so sehr brennt! ... Ich muss das Herz durchstechen, das mich verraten hat. Warum bin<br />
ich nicht schon zu Anfang gestorben, als ich Schmerz zu leiden begann, und so dumm den fremden Mann nahm, der nicht meinetwegen<br />
hergekommen war? ...‘ Ein Schwert hatte Eneas zurückgelassen, damit stach sie sich durchs Herz und ließ sich<br />
gleichzeitig in die Glut fallen. Wenn sie auch früher eine weise Frau gewesen war, so hatten sie jetzt die Sinne verlassen. Es<br />
war unrechte Minne, die sie dazu gezwungen hatte.<br />
Eneas erschien der Geist seines Vaters, er müsse ihn in der Hölle sprechen, bevor er nach Italien kommen könne. Die Sibylle<br />
würde ihn hin geleiten. Die frouwe Sibylle war hässlich, mit Haaren wie eine Pferdemähne, aus den Ohren hingen ihr Haare, die<br />
Augenbrauen hingen über die tiefliegenden Augen und reichten ihr bis zur Nase, ihr Mund war schwarz und kalt, die Zähne<br />
standen ihr vor und waren lang und gelb. Hals und Kehle waren schwarz und faltig. Ihr Körper war eingeschrumpft und in<br />
schlechtem Gewand. Ihre Arme und Hände waren nur Adern und Haut. Doch freundlich führte sie Eneas in die Unterwelt (diese<br />
ist eine Mischung aus dem Bericht Vergils und mittela. Höllenvorstellungen). Er sah, wie die Seelen, die noch nicht geläutert<br />
genug waren, vom Totenfährmann Charo über den Fluss Flegeton übergeführt zu werden, von Drachen, Löwen, Lindwürmern<br />
und anderen Untieren zerfleischt wurden, Hitze und Kälte litten. Charo war ein Teufel, kein Mensch. Hässlich, wie Feuer brennenden<br />
Augen, Augenbrauen scharf wie Dornen und Klauen an Füßen und Händen, rote, lange und große Zähne, stinkender<br />
Mund, mit einem Schwanz wie ein Hund. Auf Sibylles Bitte führte er auch den lebenden Eneas über. Drüben sahen sie die<br />
Quelle des Vergessens, aus der die Verstorbenen trinken, dann durchschritten sie eine Finsternis, in der nur das Schwert des<br />
Eneas den Weg leuchtete. Dann kamen sie zum Tor der Hölle. Cerberus (wieder Beschreibung seiner Hässlichkeit) wird eingeschläfert<br />
und lässt sie passieren. Vor dem Betreten der eigentlichen Hölle kamen sie zuerst an den ungeborenen, noch im Mutterleib<br />
verstorbenen Kindern vorbei. Im Inneren trafen sie viele Leute, die an der Minne gestorben waren. Da erkannte er die<br />
mächtige Frau Dido, die sich so jämmerlich um seinetwillen umgebracht hatte. Er wollte sie beklagen und sah sie traurig an.<br />
Doch sie wandte das Haupt ab, sie wollte ihn nicht ansehen. Dann fanden sie viele berühmte Ritter, darunter die im trojanischen<br />
Krieg Gefallenen; von den Trojanern Priamus, Paris, Hektor usw., und die berühmtesten Griechen. Dann kamen sie an<br />
einer Burg vorbei, aus deren Mauer der Fluss Flegeton hervorfloß, das war die richtige Hölle, in der die Verdammten ihre Sünden<br />
büßen, von den Höllenhunden gequält werden, in ewigem lichtlosen Feuer brennen, ewig in einen unendlichen Abgrund<br />
stürzen. Ihre Klage ist ohne Ende. Darin, erzählte Sibylle, ist auch Tantalus, der bis zum Kinn im Wasser steht und vor dessen<br />
Mund Obst wächst, doch wird es ihm entzogen, sobald er davon genießen will, und er leidet unsäglich Hunger und Durst. Sibylle<br />
führte ihn weiter ins Elysium, das ist ein schöner Ort, mit einem Fluss, auf dessen Grund Edelsteine glänzen. Dort traf er<br />
seinen Vater Anchises, der ihm die Zukunft eröffnete und die Burg in Italien zeigte, die er errichten würde, und den noch ungeborenen<br />
Sohn Silvius, den er mit der schönen Lavine, der Tochter des Königs Latinus, haben würde, und weiter die Geschichte<br />
seiner Nachkommen, über die Gründung Roms bis zu Roms Weltherrschaft. Doch ließ Anchises sich nicht von Eneas küssen,<br />
da er nur ein Geist war.<br />
Die Weissagungen gingen in Erfüllung, Eneas und die Seinen erreichten Italien. Dort hatte König Latinus von seinen Göttern<br />
ebenfalls den Auftrag bekommen, seine Tochter Lavine mit Eneas zu verheiraten und ihm sein Reich zu vererben. Auf Betreiben<br />
der Mutter war aber Lavine schon dem Herzog Turnus versprochen worden. Die Mutter gönnte ihre Tochter nicht dem landflüchtigen<br />
Trojaner, der außerdem schon Dido ins Unglück gestürzt hatte. Es kam zum Krieg gegen Turnus. Venus sah, dass ihr<br />
Sohn in Gefahr schwebte, und wandte sich an ihren Gatten, den Schmiedegott Vulcanus. Sie bot ihm ihre Minne, wenn er Eneas<br />
eine neue Rüstung schüfe. Für diesen Lohn war er gern bereit, mit ihr Frieden zu schließen und ihr zu helfen. Sieben Jahre<br />
hatte sie ihm wegen folgender Angelegenheit gezürnt: Mars, der Gott des Krieges, pflegte heimlich Venus beizuliegen. Vulcanus<br />
merkte den Betrug und schmiedete ein feines Netz aus Metall, in dem er die beiden fing, und rief alle Götter herbei. Venus<br />
und Mars waren böse, doch von den anderen Göttern dachte so mancher, um so einer Sache willen würde er sich auch fangen<br />
lassen. Seither war Venus böse auf Vulcanus und ließ ihn nicht mehr in ihr Bett, bis zu dem Tag, an dem sie ihn brauchte. Als<br />
die prächtige Rüstung fertig war, lagen die nächste Nacht der Gott und die Göttin beisammen. Ich darf Euch nicht sagen, was er<br />
tat, aber der Gott genoss mit der Göttin gute Minne 43 . Von den vielen Toten, die in den zahlreichen Kämpfen der beiden letzten<br />
Drittel des Werkes zu beklagen sind, sind zwei zu nennen: der junge Held Pallas, den sein Vater zum Ritter schlug, damit er<br />
Eneas zu Hilfe kommen könne, und der am ersten Tag seines Rittertums fiel. Er wurde einbalsamiert und in einem prächtigen<br />
Mausoleum begraben, zu dessen Wunderdingen auch ein ewiges Licht gehörte. Als auf der Romfahrt anlässlich der Kaiserkrönung<br />
Kaiser Friedrichs 44 das Grab entdeckt wurde, brannte das Licht immer noch und erlosch erst durch den Luftzug, als man<br />
den Stein aufhob. Die zweite ist die Amazonenkönigin Kamille, die mit ihren Mädchen auf der Gegenseite kämpfte, und deren<br />
Tod vom Heer des Turnus betrauert wurde. In ihrer Heimat wurde sie in einem wunderbaren Marmortempel bestattet, den sie<br />
schon zu Lebzeiten hatte errichten lassen. Form und Ausstattung des Grabes, der Goldschmuck, die kunstvollen Säulen, die<br />
Fenster aus durchscheinenden Edelsteinen werden noch ausführlicher beschrieben als beim Begräbnis des Pallas.<br />
Nun war die Streitmacht des Turnus geschwächt, er musste darauf eingehen, einen Zweikampf auf Leben und Tod mit Eneas<br />
um Frau und Herrschaft auszutragen. Eneas schien kräftiger und (dank der Rüstung aus Götterhand) besser gerüstet als Turnus.<br />
Daher versuchte die Mutter durch direkten Einfluss auf die Tochter die Sache zu entscheiden: ‚Schöne Lavine, meine liebe<br />
Tochter, dein Vater wird dir vielleicht viel Gut und Ehre rauben. Der edle Held Turnus, der heftig deine Liebe begehrt, ist deiner<br />
wohl wert, das weiß ich gut ... Ich gönne dir jede Ehre und will, dass du ihn liebst, und dass du erkennst, dass er ein edler Fürst<br />
ist ... Sei bös auf den Eneas, den unseligen Trojaner, der ihn erschlagen will, den, der dich von Herzen liebt. Deswegen hast du<br />
Ursache, ihm ungnädig zu sein und dass du ihm keinerlei Ehre antust, wenn es so weit kommt, und du sollst ihn recht hassen,<br />
wenn er dich hier mit Gewalt erwerben und das Reich deines Vaters erben will. Wenn du glücklich und gut handeln willst,<br />
Tochter, so minne den Turnus.‘ ‚Womit soll ich ihn minnen?‘ ‚Mit dem Herzen und den Sinnen.‘ ‚Soll ich ihm mein Herz<br />
geben?‘ ‚Ja.‘ ‚Wie kann ich dann noch leben?‘ ‚Du sollst es im nicht so geben.‘ ‚Was, wenn das nicht geschieht?‘ ‚Und was,<br />
Tochter, wenn doch?‘ ‚Frau Mutter, wie könnte ich meine Gedanken an einen Mann kehren?‘ ‚Die Minne soll es dich lehren.‘<br />
‚Bei Gott, wer ist die Minne?‘ ‚Sie herrscht von allem Anfang an über die ganze Welt, und wird dies bis an den jüngsten Tag.<br />
Niemand kann ihr widerstehen, denn sie ist so beschaffen, dass man sie weder hört noch sieht.‘ ‚Frau Mutter, die kenne ich<br />
43 Gerade das „nicht weiter Berichten“ einer Handlung, die ohnehin schon eindeutig benannt ist, stellt einen voyeurhaften Zug<br />
dar – ähnlich auch in der Dido-Szene.<br />
44 Barbarossa; 1155.