Literaturgeschichte 750-1500
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106<br />
unde begunde ouch zehant<br />
lieplîche enein gebâren,<br />
zît unde state vâren<br />
ir rûne unde ir mære.<br />
Der minnen wildenære<br />
leiten ein ander dicke<br />
ir netze unde ir stricke,<br />
ir warte unde ir lâge<br />
mit antwürt’ und mit frâge:<br />
si triben vil mære under in.<br />
Îsôte rede und ir begin<br />
daz was vil rehte in megede wîs:<br />
si kom ir trût und ir amîs<br />
alumbe her von verren an:<br />
von ende mante si her dan,<br />
wie er ze Develîne<br />
in einem schiffelîne<br />
geflozzen wunt und eine kam;<br />
wie in ir muoter an sich nam<br />
und wie si’n ouch generte;<br />
von allem dem geverte,<br />
wie si selbe in siner pflege<br />
schrîben lernete aller wege,<br />
latîne unde seitespil.<br />
Der umberede der was vil,<br />
die si im vür ougen leite<br />
von sîner manheite<br />
und ouch von dem serpande;<br />
und wie si’n zwir erkande<br />
in dem mose und in dem bade.<br />
Diu rede was under in gerade,<br />
si seite ime und er seit’ ir.<br />
„“, sprach Îsôt, „do ez sich mir<br />
ze ze alsô guoten staten getruoc,<br />
daz ich iuch in dem bade niht sluoc,<br />
got hêrre, wie gewarb ich sô!<br />
Daz ich nu weiz, wist’ ich ez dô,<br />
benamen sô wære ez iuwer tôt.“<br />
„Warumbe?“ sprach er „schœne Îsôt.<br />
Waz wirret iu? Waz wizzet ir?“<br />
„Swaz ich weiz, daz wirret mir;<br />
swaz ich sihe, daz tuot mir wê:<br />
mich müejet himel unde sê,<br />
lîp unde leben daz swæret mich.“<br />
Si stiurte unde leinde sich<br />
mit ir ellebogen an in:<br />
daz was der belde ein begin.<br />
lr spiegelliehten ougen<br />
diu volleten tougen.<br />
lr begunde ir herze quellen,<br />
ir süezer munt ûf swellen,<br />
ir houbet daz wac allez nider.<br />
Ir friunt begunde ouch si dar wider<br />
mit armen umbevâhen,<br />
ze verre noch ze nâhen,<br />
niwan in gastes wîse.<br />
Er sprach suoz’ unde lîse:<br />
„Ei, schœne süeze, saget mir:<br />
waz wirret iu, waz klaget ir?“<br />
Der Minnen verderspil Îsôt,<br />
„lameir“ sprach si „daz ist mîn nôt,<br />
lameir daz swæret mir den muot,<br />
lameir ist, daz mir leide tuot.“<br />
Dô si lameir sô dicke sprach,<br />
er bedâhte und besach<br />
anclîchen unde kleine<br />
des selben wortes meine.<br />
Er dachte,<br />
l’ameir daz wære minnen,<br />
und jedes begann auch sofort,<br />
sich liebevoll zum anderen zu gebärden,<br />
Zeit und Gelegenheit zu suchen,<br />
um miteinander heimlich sprechen zu können.<br />
Die Wilderer aus Liebe<br />
legten einander oft<br />
ihre Netze und Fallstricke,<br />
ihre Lauer und Hinterhalte<br />
mit Frage und Antwort:<br />
sie redeten viel miteinander.<br />
Wie Isolde zu reden begann,<br />
war ganz nach der Art von Mädchen:<br />
sie redete zu ihrem Geliebten und Liebling wie<br />
die Katze um den heißen Brei (‚kam ihn von ferne an‘):<br />
sie erinnerte (‚mahnte‘) ihn an alles von<br />
Anfang an, wie er in Develin<br />
in einem Schifflein<br />
verwundet und alleine angekommen war;<br />
wie ihre Mutter ihn an sich genommen hatte<br />
und wie sie ihn auch heilte,<br />
an alle Ereignisse,<br />
wie sie selbst in seiner Obhut<br />
schreiben gelernt hatte,<br />
Latein und Saitenspiel.<br />
Sie redete viel herum,<br />
sie legte ihm dar und erzählte ihm<br />
von seiner Tapferkeit<br />
und auch von dem Drachen,<br />
und wie sie ihn zweimal erkannte,<br />
einmal im Moor (als Tantris) und im Bad (als Tristan).<br />
Diese Art von Reden trieben sie gleicherweise,<br />
sie erzählte ihm und er erzählte ihr.<br />
„Ah“, sprach Isolde, als mir der gute Zufall<br />
zustatten kam,<br />
dass ich Euch da nicht im Bad erschlug,<br />
Herrgott, wie dumm habe ich da gehandelt!<br />
Was ich jetzt weiß, hätte ich es damals gewußt,<br />
es wäre fürwahr Euer Tod gewesen.“<br />
„Warum“, sprach er, „Schöne Isolde?<br />
Was beschwert Euch? Was wißt Ihr?“<br />
„Alles was ich weiß, beschwert mich.<br />
Alles was ich sehe, tut mir weh.<br />
Mich belästigt Himmel und Meer,<br />
Leib und Leben beschwert mich.“<br />
Sie stützte und lehnte sich<br />
mit ihrem Ellenbogen an ihn.<br />
Das war der Beginn der Keckheit.<br />
Ihre spiegelhellen Augen<br />
füllten sich heimlich.<br />
Ihr Herz begann ihr aufzuquellen,<br />
ihr süßer Mund aufzuschwellen,<br />
ihr Haupt sank nieder.<br />
Da umarmte sie ihr Freund,<br />
weder zu distanziert (‚fern‘) noch zu nahe,<br />
sondern nur so wie es sich für einen Gast gehört.<br />
Er sprach süß und leise:<br />
„Ei, süße Schöne, sagt mir:<br />
was beschwert Euch, was klagt Ihr?“<br />
Der Köder der Liebe, Isolde,<br />
sprach: „Lameir, das ist meine Not,<br />
Lameir beschwert mir den Sinn,<br />
Lameir ist es, was mir Leid zufügt!“<br />
Als sie so oft Lameir sprach,<br />
analysierte er<br />
genau<br />
die Bedeutung des Wortes.<br />
Sus begunde er sich versinnen,<br />
dass l’ameir Minne heiße [vgl. lat. amor],