Literaturgeschichte 750-1500
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DER ARTUSROMAN, SEINE ENTSTEHUNG UND ÜBERTRAGUNG<br />
NACH DEUTSCHLAND<br />
Aufgaben: An deutschen Artusromanen, über die Sie etwas wissen sollten, nenne ich: Ulrich von Zatzikhoven,<br />
Lantzelet; Hartmann von Aue, Erek und Iwein. Was hat Hartmann außer Artusromanen noch geschrieben? Was<br />
hat Chrestien alles geschrieben?<br />
CHRESTIEN DE TROIES, EREC<br />
1. Der Inhalt<br />
„Eine Bauernregel besagt, dass oft etwas verachtet wird, das viel mehr wert ist, als man glaubt. Deshalb soll man seine Arbeit,<br />
was es auch sei, mit Verstand ausführen; denn wer seine Arbeit nachlässig macht, verschweigt dabei vielleicht etwas, das viel<br />
Freude bringen könnte. Deshalb sagt Crestiiens de Troies, es ist vernünftig, wenn jeder jedenfalls daran denkt und sich bemüht,<br />
Gutes (gut) zu erzählen und Gutes zu erlernen ([das Erzählte] gut zu verstehen). 47 Er bringt eine Erzählung von avanture (><br />
deutsch Abenteuer) in einer sehr schönen conjointure (‚Erzählfolge, Anordnung‘), damit man erkennen kann, dass es nicht klug<br />
ist, sein Wissen zu verschweigen, solange einem Gott die Gnade dazu gibt. Von Erec, dem Sohn des Lac, handelt die Erzählung,<br />
die die, die vom Erzählen leben wollen, vor Königen und Grafen in Stücke zu reißen und kaputt zu machen pflegen.<br />
Gleich beginne ich mit der Geschichte, die für immer in Erinnerung bleiben soll, so lange die Christenheit besteht. Dessen hat<br />
sich Christian gerühmt.“<br />
Zu Ostern, zu Frühlingsbeginn, hält König Artus auf seinem Kastell Kardigan 48 Hof, so prächtig, wie man es noch nie zuvor<br />
gesehen hatte. Vortreffliche Ritter und edle Damen, Königstöchter, alle natürlich strahlend schön. Da spricht der König zu seinen<br />
Rittern, er wolle die alte Sitte der Jagd nach dem weißen Hirschen wieder aufnehmen. Gauvain meldet Bedenken an: Zur<br />
Sitte der Jagd nach dem weißen Hirschen gehört, dass der, der den weißen Hirschen erlegt hat, die schönste Jungfrau am Hof<br />
küssen muss. Nun gibt es am Artushof etwa 500 Jungfrauen, und jede von ihnen hat einen Freund, der zu Recht oder zu Unrecht<br />
behaupten wird, seine Freundin sei die Schönste. Artus weiß nichts Besseres als: „Der König hat gesprochen, also gibt es<br />
keine Widerrede“. Also bricht man am nächsten Morgen in den forest avantureuse, den ‚Wald der Abenteuer‘, auf. Als erster<br />
steht der König auf, lässt die Ritter wecken und eilt mit den Jägern in den Wald. Nach ihnen bricht die Königin auf, zusammen<br />
mit einem ihrer Hoffräulein, und reitet ihnen nach. Noch weiter hinter ihr folgt eilig ein Ritter namens Erec. Er gehört zur<br />
Tafelrunde und besitzt großes Ansehen bei Hofe, außerdem ist er jung, noch nicht 25, und schön. Er trägt keine Rüstung,<br />
sondern nur ein prächtiges Gewand: einen kurzen Rock aus Konstantinopel, goldene Sporen, und sein Schwert. Als er die<br />
Königin und ihre Dame einholt, spricht er höflich: „Gnädige Frau, darf ich Euch begleiten? Nur aus diesem Grund kam ich<br />
hierher“ (der letzte Satz ist eine Höflichkeitsfloskel; natürlich war er gekommen, um dem Jagdzug nachzueilen, dessen Aufbruch<br />
er versäumt hatte). Die Königin nimmt an, und zu dritt treten sie auf eine Lichtung abseits vom Weg, um hören zu können, wo<br />
sich der Jagdzug befindet. Die Jäger haben zwar schon den Hirschen aufgespürt, aber die Königin und Erek hören trotzdem<br />
nichts, denn sie sind zu weit weg. Doch da erscheint auf dem Weg eine andere, seltsame Dreiergruppe: ein schwer bewaffneter<br />
Ritter mit einem schönen Fräulein, und vor ihnen ein Zwerg mit einer Peitsche. Die Königin will wissen, wer der Ritter<br />
und das Mädchen sind, und schickt ihr Hoffräulein, den Ritter aufzufordern, mit seiner Begleiterin zu ihr zu kommen. Der<br />
Zwerg schlägt jedoch die Botin mit der Peitsche, und Erec geht es nicht besser. Jetzt müsste Erec zurückschlagen und den Ritter<br />
samt Zwerg töten – aber ungerüstet wäre er unterlegen. Der Ritter würde ihn einfach erschlagen. Dummheit ist nicht Tapferkeit.<br />
Erek ist klug. Was tun? Wenn er an den Artushof zurückreitet, seine Waffen zu holen, findet er die Spur des Ritters nie<br />
wieder, der einfach davonreitet, ohne sich um die drei zu kümmern. Also beschließt er, in einiger Entfernung der seltsamen<br />
Dreiergruppe zu folgen und zu hoffen, dass er irgendwo vorbeikommt, wo man ihm eine Rüstung und Waffen leihen könnte,<br />
damit er den Ritter herausfordern kann. Die Königin gewährt ihm dazu Urlaub. Erec reitet fort, die Königin trifft auf den glücklichen<br />
Jagdzug: der König selbst hat den weißen Hirschen erlegt. Zu Hause, nach dem Abendessen, will nun der König seinen<br />
Kuss. Von wem? Bei Hof entsteht ein lautes Gemurmel: jeder wäre bereit, mit der Waffe für seine Freundin zu kämpfen. Gauvain<br />
warnt ein zweites Mal, und nun, wo es ernst wird, handelt Artus: Er bittet Gauvain, ihm einen Rat zu geben, was er tun soll,<br />
ohne sein Gesicht zu verlieren. Die besten Barone des Hofes diskutieren, was zu tun sei, aber die einzige, die momentan einen<br />
Ausweg weiß, ist die Königin – nicht eigentlich einen Ausweg, aber ein Mittel, etwas Zeit zu gewinnen: sie erzählt das Erlebnis<br />
im Wald, und meint, bevor man nicht wisse, wie es Erec ergangen sei, könne man auch nicht das Kussritual vollziehen. Alle<br />
sind erleichtert und warten auf Erecs Rückkehr.<br />
Der folgt in sicherem Abstand dem Ritter bis zu einem großen Kastell. In diesem Ort ist allerhand los. Viele Ritter und Fräulein<br />
sind schon hier, alle begrüßen den Ritter mit dem Zwergen, aber niemand den unbekannten Erec. Der Ritter nimmt in einem<br />
Haus Quartier, Erec sucht ebenfalls eine Unterkunft für die Nacht. Da sieht er einen alten weißhaarigen vavassor (die Vavassors<br />
sind die niederste Stufe des Adels) vor seinem Haus; der Haushalt wirkt ärmlich, doch ist der Mann schön und wirkt edel und<br />
freundlich und bietet Erec an, ihn zu beherbergen. Das nimmt Erec an. Der Alte, seine Frau und seine Tochter bedienen ihn<br />
zuvorkommend; nachdem der Vavassor nur einen Diener und keinen Stallknecht hat, leistet seine Tochter diesen Dienst. Erec<br />
entgehen aber nicht ihre Reize; ihre Bluse ist nämlich löchrig und der schöne Körper glänzt darunter hervor – nur an den Ellbogen.<br />
Natur (eine allegorische Figur), die sie geschaffen hatte, hatte sich mehr als fünfhundertmal gewundert, wie ihr ein einziges Mal<br />
eine so schöne Sache gelungen war, denn nie wieder ... Niemals ist es Gott gelungen, Nase, Mund und Augen besser zu formen.<br />
49<br />
47 bien dire und bien aprandre bezeichnet beides: die gute Technik beim Erzählen bzw. Zuhören und den Inhalt: etwas Gutes<br />
erzählen bzw. vernehmen.<br />
48 Diesen Ort gibt es tatsächlich; er liegt an der Westküste von Wales.<br />
49 Dass Gott eine Sache bei der Schöpfung besser oder weniger gut gelingen könnte, entspricht mittelalterlicher Theologie natürlich<br />
genauso wenig wie heutiger. Auch wenn man die allegorische Natura als Schöpferin einschaltet, wird es nicht besser. In