25.12.2013 Aufrufe

Literaturgeschichte 750-1500

Literaturgeschichte 750-1500

Literaturgeschichte 750-1500

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

48<br />

Walther distanzierte sich in seiner Altersdichtung von der Liebeslyrik und wies religiöse Ziele, predigte Weltabkehr<br />

und Kreuzzugsteilnahme. Neidhart freilich nahm Walther den Gesinnungswandel nicht ab; er parodiert Walthers<br />

Alterslieder in seinem Winterlied Nr. 30. Ich mute Ihnen nicht den schwierigen Originaltext zu, sondern übersetze:<br />

Alles was im Sommer froh war ist jetzt, wo der lange, schwere Winter kommt, traurig. Die Vögel schweigen, Blumen und Gras<br />

sind verdorben. Schaut, wie viel Raureif im Wald liegt! Er ist daran schuld, dass die Wiese braungelb ist. Darüber klage ich<br />

genau so wie alle anderen auch, und das wird bis zu meinem Todestag so sein. Deshalb wundert ihr euch vielleicht, warum ich<br />

meinen Freunden geklagt habe, sie sollen sich bessern. Ich will es euch erklären, damit ihr mir Recht gebt: in der Welt lebt<br />

niemand ohne Sünde. Je länger es andauert, desto schlimmer wird es in der Christenheit. Meine Tage schwinden dahin und<br />

verkürzen meine Jahre. Sollte ich mich da einer Freude hingeben, die nicht von Herzen käme, und einen Dienst sein lassen, der<br />

mir Besseres brächte? Wenn ich Sünder in Reue baden sollte, so will sie, meine Herrin [die Welt], dass ich ihren Kindern neue<br />

Lieder singe. Dann muss ich sie mit Gewalt fliehen. Sie darf mich nicht mehr zu sich einladen; ich will endgültig aus ihrem<br />

Dienst scheiden. Ich will die Seele retten, die ich mit wollüstigem Gesang Gott entfremdet habe. Der Engel möge ihr beistehen<br />

und sie beschützen! Meine Herrin ist älter als tausend Jahre und dümmer als ein siebenjähriges Kind; eine so unwürdige Herrin<br />

habe ich sonst nirgends kennengelernt. Sie hat mich ganz verlockt und hofft noch immer, dass ich ihr immerfort dienen werde.<br />

Das sagte mir ein Bote, den sie mir ihre Dienste und ihre Minne ausrichten ließ. Da sagte ich ihr endgültig auf, der Betrügerin.<br />

Ehrlose Dame, weh, was wollt ihr von mir? Tausend Junge sollen Euch an meiner Stelle dienen. Ich will einem Herren dienen,<br />

dessen Eigen ich bin, und will nicht mehr Euer Sänger sein. Dass ich Euch zu Diensten so manchen geilen Tritt getreten habe,<br />

das schadet meinem Seelenheil. Am meisten tut mir leid, dass ich Euch da nicht floh, und mir nicht einen Herrn gesucht habe,<br />

der noch besser lohnt. Weil die Weisen sich alle Gotteskinder nennen - wäre ich weise, müsste ich also am Kinderkreuzzug<br />

teilnehmen, aber der Versammlungsort dafür ist mir zu weit weg -, 35 und die, die Welt lieben, alle Dummköpfe sind, Herrgott im<br />

Himmel, geleite mich also dorthin! Kraft über allen Kräften, stärke meine Geisteskraft, damit ich mein Seelenheil um deinetwillen<br />

verdienen kann und um deiner Liebe willen Anteil an der ewigen Wonne! Wenn ich zu trauern beginne, kommt einer und<br />

sagt: ‚Guter, sing etwas! Wir wollen mit euch singen, verhelft uns zur Freude! Was man jetzt singt, taugt nichts. Meine Freunde<br />

sagen, ihr habt einst viel besser gesungen. Sie wundern sich, wohin die Bauernlümmel aus den Gedichten entschwunden sind,<br />

die früher am Tullner Feld 36 auftraten.‘ Aber es wandelt noch einer auf ihren Spuren, von dessen Schandtaten ich erzählen will:<br />

er heißt mit seinem richtigen Namen ‚Knurr den Zaun an‘. 37 Er und einer seiner Freunde (der heißt Hollerschwamm), derengleichen<br />

hat man noch nie gesehen. Der eine ist blond, der andere braunhaarig. Er ist noch torenhafter als der, der Friderun ihren<br />

Spiegel raubte oder jene, die in Wien einst Panzerplatten kauften. Ihrer beider Busen sind mit Knöpflein in zwei Reihen um den<br />

Hals besetzt, damit sie weithin erglänzen. Ihre Hüte und Röcke sind geziert; ihre Schwerter gleich lang, ihre Stiefel reichen bis<br />

zu den Knien hinauf und sind bunt gefärbt: so gingen sie im Sommer auf die Kirchtage. Sie sind stark übermütig, dass man<br />

glaubt, sie wohnten unterhalb der Traisen. Wie konnte es meine Frau Süße dem Knurrdenzaunan verzeihen, dass er an ihrer<br />

Hand den Reihen tanzte? Zwischen den Tänzen lachte er ihr allzu dumm zu.‘<br />

Da ist viel aus Walthers Altersdichtung drin verpackt:<br />

- die immer schlechter werdenden Zeiten,<br />

- die Klage über das Älterwerden,<br />

- die Abkehr vom Minnedienst, der ein Dienst an der ‚Frau Welt‘ ist,<br />

- die vergeblichen Bitten der Welt,<br />

- der Selbstvorwurf, die Minnedichtung sei nur mangelhaft sublimierte Sexualität gewesen<br />

- die Minne als Allegorie (personifizierter abstrakter Begriff), die als solche uralt ist, aber sich wie ein Kind benimmt;<br />

dieses einen Einfall Wolframs variierende Lied Walthers haben wir S. 47 f. besprochen,<br />

- der Kreuzzugsaufruf und die Alternative: ewige Freude ist besser als irdische Freude<br />

- trotzdem der Jugend vorzuwerfen, nicht froh zu singen.<br />

Vieles von dem hier Verspotteten ist den Klagen alternder Dichter seit der Antike gemeinsam; einiges ist epochenbedingte<br />

Klage, nachdem das ‚kollektive ‚Freudegebot‘ der Blütezeit staufischer Kultur und der ersten Generation<br />

höfischer Dichtung sich als unerfüllbar herausgestellt hatte. Aber in dieser Kombination ist es unverkennbar<br />

gegen Walther, nicht gegen irgendeinen Älterwerdenden um 1227 gerichtet. Wir dürfen in ‚Knurrdenzaunan‘ eine<br />

Chiffre für den nach eigenen Worten volle scheltens aus dem Mund stinkenden Walther sehen, möglicherweise<br />

sogar in der geckenhaften Kleidung eine Anspielung auf Walther; Holerswam habe ich hingegen keine Hoffnung,<br />

identifizieren zu können: ein ‚Baumschwamm auf einem Holunderbusch‘ hat vielleicht nichts hinterlassen, das die<br />

Jahrhunderte überdauerte. Allerdings kennt das Nibelungenlied einen Spielmann namens Swemmel.<br />

35 Der Kinderkreuzzug war 1212 (für den deutschen Teil; ein anderer Sammelort lag in Frankreich) von Köln ausgegangen; alle<br />

Kinder kamen elend um.<br />

36 Tulln ist der Hauptort des ‚Tullner Feldes‘, westlich von Wien, das von der Traisen donauabwärts liegt, noch über Zeiselmauer<br />

hinaus reicht und daher zu den meistdiskutierten Landschaften der ‚Literaturgeographie‘ gehört. Hier spielen einige von<br />

Neidharts Winterliedern.<br />

37 Die Übersetzung von Liminzûn ist unsicher. Zu limmen ‚knurren‘? Das könnte ein Hundename sein und auf Walther gemünzt<br />

sein. Da die Bedeutung des Namens nicht feststeht und zudem dieser Dörpername auch in Liedern Neidharts vorkommt, die sich<br />

nicht auf Walther beziehen lassen, kann das nicht mehr als eine vage Vermutung sein. Es ist aber möglich, dass Neidhart einen<br />

schon benutzten Dörpernamen für einen Gegner verwendet; und Hiebe auf Walther setzt es ja in diesem Lied reichlich.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!