Literaturgeschichte 750-1500
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Chrestien schildert eine archaischere Gesellschaft am Ort des Sperberturniers als im Gegensatz zur moderneren am<br />
Artushof. Die Begründung der Schönheit der Dame durch die Tapferkeit des Ritters ist hier unwidersprochen.<br />
Hartmann erzählt mehr geradeheraus; dass er sich nicht mit seinen Figuren identifiziert, kommt seltener vor. Daher<br />
ist man sich auch in seinem Tulmein der Diskrepanz zwischen Schönheit und der Dame und Kraft des Ritters so<br />
bewusst wie in der höfischen Gesellschaft um 1200. Hartmanns Prinzip des ‚Geradeherauserzählens‘ zeigt sich<br />
auch daran, dass er als allwissender Erzähler von dem Turnier berichtet, als Erec nach Tulmein kommt, während<br />
Chrestien streng darauf hält, dass wir nicht vor Erec informiert werden. Die ausgefeilte Technik des Franzosen ist<br />
Hartmann sicher nicht entgangen, aber er hat sie anscheinend nicht goutiert. Hartmann erzählt eine Geschichte um<br />
ihrer selbst und des Publikums willen; gerade das, worauf Chrestien stolz ist, der kunstvolle Aufbau, wird dazu<br />
teilweise rückgängig gemacht. Chrestien erzählt, was man gerade nicht erwartet hat, um vom Publikum bewundert<br />
zu werden, Hartmann erzählt, worauf das Publikum gerade neugierig ist, um ihm einen Gefallen zu tun; und<br />
wenn er sein Publikum foppt, so sind das höchstens ein paar scherzhafte Wortwechsel mit dem fiktiven Publikum<br />
im Roman.<br />
225 Der Ritter nimmt bei Hartmann auf der Burg Unterkunft, Erec im Ort. Bei Chrestien logiert der Ritter im<br />
Gasthaus – das städtische Wesen ist in Frankreich offensichtlich schon entwickelter als in Deutschland.<br />
250 Das Haus von Enites Vater ist so verfallen, dass Erec es für eine unbewohnte Ruine hält, in der er übernachten<br />
will, weil er kein Geld mit hat – und ist ganz überrascht, als er in einem Winkel den alten Mann sitzen<br />
sieht. Dagegen fiel Chrestiens Erec das Haus sofort als zwar ärmlich, aber sauber gehalten auf. Auch das Essen<br />
schildert Chrestien als einfach, aber ausreichend; der Vavassor hat sogar einen Diener, der in der Küche hilft, und<br />
mehrere Pferde (allerdings keinen Pferdeknecht, für den muss die Tochter einspringen). Bei Hartmann herrscht<br />
dagegen bei diesen armen Leuten der ärgste Mangel; Vater, Mutter und Tochter bewohnen die Ruine ganz allein.<br />
Dafür unterdrückt Hartmann die niedrige Abkunft von Enites Vater; er war ein mächtiger Graf gewesen (sogar ein<br />
Freund von Erecs Vater), der durch übermächtige Feinde aus seinem Erbe vertrieben wurde; Enites Eltern (wir<br />
erfahren auch gleich ihre Namen: Koralus und Karsinefîte) sind edelarme und Enites Geburt war âne schande. Er<br />
hebt den Gegensatz arm – reich viel stärker hervor als Chrestien, dafür lässt er den dort mindestens gleich wichtigen<br />
Gegensatz des Standes fallen. Ein Brautvater unter dem Grafenrang hätte für den Königssohn Erec bei Hartmann<br />
Schande bedeutet.<br />
532 herre, disen spot sult ir lâzen durch got. Iuwer rede ist verlâzenlîch. Nû hat got über mich verhenget swes<br />
er wolde ‚Herr, lasst diesen Spott um Gottes willen. Eure Worte sind eine Lästerung. Denn Gott hat über mich<br />
verhängt, was er wollte. ‘<br />
Bei Chrestien hatte der Vater des Mädchens manche Partie ausgeschlagen, weil er gemeint hatte, sie sei trotz ihrer<br />
niederen Herkunft eines Königs wert. Hartmanns Religiosität lässt zu, dass die verarmte Enite reich gemacht wird;<br />
wenn Gott über jemanden Armut oder Reichtum verhängt hat, so muss das nicht lebenslang gelten. Gerade dadurch,<br />
dass Koralus den Willen Gottes akzeptiert, macht er sich des neuen Glückes würdig. Die Geburt in einen<br />
bestimmten Stand ist aber etwas, das Gott dem Menschen für sein ganzes Leben zugewiesen hat; da kann Hartmann<br />
nicht die Vorlage übernehmen. Das scheint nur auf den ersten Blick ein Widerspruch zu Hartmanns Mitgefühl für<br />
Leute niederen Standes, das sich im Erec genau so wie in seinen anderen Werken zeigt: nach der christlichen Soziallehre<br />
kann ein Armer Gott sehr nahe sein, das Christentum fordert den Reichen zur Nächstenliebe auf usw.; anderseits<br />
wird vom Armen Ergebenheit in den Willen Gottes verlangt, und der zeigt sich dadurch, als wessen Kind<br />
Gott jemanden geboren werden lässt. Jemand, den Gott als Sohn eines Königs geboren werden lässt, ist von ihm<br />
zum Königssohn bestimmt, jemand, den er als Sohn eines Taglöhners geboren werden lässt, dazu usw. Der Stand,<br />
in den man geboren wird, ist Teil des göttlichen ordo. Was die mittelalterliche Realität anbelangt, so hat man sich<br />
nicht immer an Hartmanns religiöses Ordo-Ideal gehalten: Wilhelm der Eroberer z. B. war ein Bastard (außerehelicher<br />
Sohn des Herzogs der Normandie mit der Tochter eines Gerbers); einen fähigen Diplomaten aus dem (unfreien)<br />
Ministerialenstand, Markwart von Answeiler, ließ Kaiser Barbarossa förmlich frei, um ihm als Botschafter<br />
an den Kaiser von Byzanz den nötigen Rang zu geben. Der Altadel wird solche Leute wohl für Parvenüs gehalten<br />
haben, aber die gesellschaftlichen Schranken waren zwar schwer, doch nicht prinzipiell unübersteigbar. Hartmann<br />
hat sich wohl nicht als Vertreter des Altadels, sondern der christlichen Soziallehre gefühlt. Sicher nicht zufällig war<br />
die Zeit, in der in Schullesebüchern die Auswahl aus mittelhochdeutscher Literatur zu einem großen Teil aus Hartmann-Texten<br />
bestand, die christlichsozialen Einflusses auf die Unterrichtspolitik. Ob Hartmanns Utopie weniger<br />
herrschaftsstabilisierend wirkte als Chrestiens realitätskonforme Sicht des Landvolkes als ‚Unpersonen‘, mag allerdings<br />
bezweifelt werden.<br />
Um Hartmanns Leistung als Dichter gerecht zu werden, müssen wir anerkennen, dass er nicht nur nach seiner<br />
Weltanschauung anstößige Szenen tilgt (etwa Chrestiens Hinweise auf das sexuelle Vergnügen in der Hochzeitsnacht<br />
oder am Morgen des verhängnisvollen Streites werden Sie bei Hartmann vergeblich suchen), sondern dass er<br />
bemüht ist, statt dessen eine eigene, ihm gemäße Sinnstruktur aufzubauen. Dass dies immer wieder die zu wählenden<br />
Symbole beeinflusst, erkennen wir etwa an der weißen Farbe der armseligen Bluse Enides bei Chrestien<br />
gegen das grüne Kleid bei Hartmann (weißglänzend ist die Farbe der Unschuld, aber auch der Festkleidung; Grün<br />
als Farbe der Hoffnung impliziert dagegen, dass der Zustand der Vollkommenheit noch nicht erreicht ist).<br />
Aus dem zweiten Teil wollen wir stellvertretend für die vielen Abweichungen dieser Art nur einige erwähnen:<br />
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