Literaturgeschichte 750-1500
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DAS RITTERTUM<br />
Aufgabe: suchen Sie ‚Ritter‘ im „Lexikon des Mittelalters“. Es ist nicht so leicht, herauszufinden, in welcher der<br />
Bibliotheken unseres Hauses und in welchem Regal dort es steht. Ganz Tüchtigen wird es aber gelingen, die<br />
Online-Version über das Datenbankservice der UB zu benutzen.<br />
Wenn man einen Überblick darüber erhalten will, was die Vertreter einer bestimmten Wissenschaft interessiert, tritt<br />
man am besten einer Internet-Diskussionsliste bei. Nun werden Sie denken, dass jeder weiß, was Ritter sind, und<br />
danach niemand auf so einer Liste fragen wird. Aber gerade über das Selbstverständliche einen Artikel zu schreiben<br />
ist schwierig, und wenn Sie sich ein wenig damit befassen, merken Sie, dass am Begriff ‚Ritter‘ gar nichts<br />
selbstverständlich ist und vieles umstritten. Daher ist der Hilferuf jenes Fachmannes verständlich, der für ein Lexikon<br />
den Artikel ‚Ritter‘ schreiben muss, und die Kollegenschaft von der ‚Liste‘ um Hilfe bat. Ich lese die Post<br />
dieser Liste regelmäßig und habe mir die Anfrage herauskopiert: Denken Sie nach, was er für wesentlich hält am<br />
Rittertum, was andere, und ob Sie Stellung nehmen könnten.<br />
Liebe Liste!<br />
Fuer einen Lexikonartikel musste ich das Thema Rittertum und seine Rezeption in komprimierter Form behandeln. Der<br />
Entwurf des allgemeinen Teils sei hier zur Diskussion gestellt - falls ich etwas Wichtiges uebersehen oder schief dargestellt<br />
habe, bitte ich um Korrektur.<br />
Danke!<br />
Klaus Graf<br />
***<br />
RITTER<br />
1. Genese und Blüte des Rittertums im Hochmittelalter<br />
Die Entstehung des europäischen Rittertums und seine Ausformung im hohen Mittelalter war ein komplexer<br />
Prozeß, der sich in mehreren Dimensionen vollzog: 1. in der Terminologie, 2. in militärgeschichtlichen Innovationen,<br />
3. in sozialgeschichtlichen Entwicklungen, 4. in einem grundlegenden zivilisatorisch-wertegeschichtlichen<br />
Wandel, verbunden mit der Ausbildung besonderer 5. ritueller und 6. literarisch-erzählerischer Formen. Sozialgeschichtlich-politische<br />
und "kulturelle" Aspekte waren dabei in mannigfacher Weise verwoben 1 .<br />
1.1 Terminologie. Dem deutschen Ritter ("Reiter") entspricht im Lateinischen "miles" und - seltener - "eques"<br />
(für Ritterschaft steht: "militia", "ordo equestris"), im Französischen "chevalier", im Italienischen "cavaliere" (beides<br />
von der volkssprachlichen Bezeichnung für Pferd abgeleitet), im Englischen "knight". Neben der ritterlichhöfischen<br />
Literatur (siehe unten 1.6) dokumentieren die Zeugenlisten der Urkunden, in denen der Rittertitel auftritt,<br />
und die lateinische Historiographie die Attraktivität der ritterlichen Lebensform.<br />
1.2 Vom Krieger zum Ritter. Die Veränderung der Heeresorganisation, die seit dem 9. Jh. die frühmittelalterlichen<br />
Bauernkrieger durch Berufskrieger ersetzte, etablierte die militärische Bedeutung des Panzerreiters, der bis<br />
heute die Vorstellung eines Ritters bestimmt: ein in Rüstung 2 auf dem Pferd sitzender Krieger, bewaffnet mit Helm,<br />
Schild, Schwert und Lanze. Auf dem Schild identifizierte seit der Mitte des 12. Jh. das Geschlechtswappen den<br />
Ritter. Als Herrschaftssymbole wurden - zunehmend seit dem 11. Jh. - in ganz Europa vom Feudaladel befestigte<br />
(Höhen-)Burgen errichtet, die weitgehend an die Stelle der zuvor in den Siedlungen gelegenen Herrensitze traten 3 .<br />
1.3 Adel und Hof. Das Aufkommen des Rittertums ist eng mit der Ausformung der Vasallität und des Lehenswesens<br />
verknüpft (->Feudalismus), aber auch mit den Formierungsprozessen des Adels als Stand<br />
4. In Deutschland umschloß das Rittertum als gesellschaftliches Forum der Integration den hohen Adel und die<br />
aus der Unfreiheit kommende Ministerialität der abhängigen Dienstleute gleichermaßen. Exemplarischer Ort des<br />
Rittertums war der Hof<br />
5, die "curia" des Königs oder Fürsten (->Höfisches Leben). Dass auch die städtischen Oberschichten Anteil an<br />
der höfisch-ritterlichen Kultur hatten 6 , darf in Anbetracht der lange dominierenden klischeebeladenen Gegenüberstellung<br />
von "ritterlicher" und "bürgerlicher" Welt nicht unerwähnt bleiben.<br />
1.4. Höfische Zivilisation und Werte. Die Regeln der "höfischen" Kultiviertheit, die gutes Benehmen (ritterliche<br />
"Zucht"), Urbanität und Körperbeherrschung 7 verlangten, verbreiteten sich, von gelehrten Klerikern unter Rezeption<br />
antiker Vorlagen entwickelt, von den höfischen Zentren aus unter der Aristokratie 8 . Bis heute sind "Höflichkeit"<br />
und "Courtoisie" als Bezeichnungen feiner Umgangsformen üblich - ebenso wie "Kavalier" und "ritterlich"<br />
verweisen sie auf wertegeschichtliche Kontinuitäten. Tonangebend war im 12./13. Jh. die französisch-provencalische<br />
Kultur. Religiöse Ethik sollte den wilden Haudegen disziplinieren, ihn zum "miles christianus" formen.<br />
Große Bedeutung kam der Gottesfriedensbewegung zu, die das Fehdewesen und die adelige Gewalt eindämmen<br />
wollte, und dem Kreuzzugsgedanken (->Kreuzzüge), der den Ritter als Heidenkämpfer entwarf. Prägnant formulierte<br />
1095 der Kreuzzugsaufruf Papst Urbans II.: "Nunc fiant Christi milites, qui dudum extiterunt raptores" - aus<br />
Räubern sollten Ritter Christi werden 9 . Die geistlichen Ritterorden 10 - am bedeutendsten waren die Templer (1312<br />
aufgehoben), die Johanniter und der Deutsche Orden - nahmen dieses Programm auf, indem sie religiös-monastische<br />
Lebensform mit dem ritterlichen Kampf verbinden wollten.<br />
Auch wenn das altgermanistische Konstrukt eines widerspruchsfreien ritterlichen "Tugendsystems" obsolet ist,<br />
kann an der identitätsstiftenden Verbindlichkeit eines gemeinsamen Werteensembles und Verhaltenscodex (Treue,<br />
Freigebigkeit usw.) mit dem Zentralbegriff der ritterlichen "Ehre" kein Zweifel bestehen 11 . Zu beachten ist jedoch<br />
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