Pressemitteilung
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Arm und dick<br />
Arm und dick<br />
Arm und dick<br />
In sozial schwachen Familien gibt es besonders viele dicke Kinder. Dabei wissen sie im<br />
Prinzip gut über gesunde Ernährung Bescheid, das behauptet zumindest die<br />
Wissenschaftlerin Dr. Katrin KROMEYER-HAUSCHILD vom Institut für Humangenetik der<br />
Universität Jena.<br />
Seit über 120 Jahren werden in Jena Schulkinder gemessen und gewogen. Nun<br />
haben Sie nachgewiesen, dass arme Kinder oft auch dicke Kinder sind. Wie<br />
belegen Sie dies?<br />
1995 haben wir begonnen, neben medizinischen Fakten soziale Daten zu erheben. Für die<br />
Studie 2005/06 wurden rund 2000 Jenaer Kinder untersucht. Die Eltern haben wir gebeten,<br />
zusätzlich noch einen Fragebogen auszufüllen. Etwa 90 Prozent aller Bögen kamen auch zu<br />
uns zurück.<br />
Wonach haben Sie gefragt?<br />
Zum Beispiel nach Schulabschluss, Berufsausbildung, Familienstand der Eltern,<br />
Arbeitslosigkeit, das wievielte Kind der Familie es ist, das von uns untersucht wurde, Größe<br />
der Wohnung, Zahl und Art der gemeinsamen Mahlzeiten der Familie, ob das Kind Krippe<br />
oder Kindergarten besuchte.<br />
Und das Ergebnis?<br />
Zehn Prozent der Kinder sind übergewichtig, drei Prozent adipös. Dabei hatten wir schon<br />
1985 zu 1995 eine Verdoppelung dieser Kinder registriert. Die Zahlen von 2006 werten wir<br />
noch aus, aber es ist schon absehbar: Seit 1Þ995 gab es erneut fast eine Verdoppelung.<br />
Zwar liegen die Jenaer Kinder unter dem Bundesschnitt, denn es leben hier viele Studenten<br />
und Wissenschaftler. Klar ist auch: Es gibt Zusammenhänge zur sozialen Situation und dem<br />
Bildungsstand. Je mehr Probleme Familien haben, desto mehr dicke Kinder haben sie.<br />
Fehlt es am Wissen über gesunde Ernährung?<br />
Das sehe ich nicht so. Eltern und Kinder geben in Befragungen meist richtige Antworten.<br />
Aber es klappt trotzdem nicht.<br />
Warum ist das so?<br />
Es ist sicher ein Geflecht vieler Ursachen. Wer arbeitslos ist, sitzt häufig lange vor dem<br />
Fernseher. Dort verspricht man in Werbespots Freude durch Süßes, Knabbereien, Deftiges.<br />
Im Supermarkt springen den Kunden die Sachen an, und wer sonst vom Konsum<br />
ausgeschlossen ist, möchte nun endlich auch dabei sein, probieren, wählen. Und in diesem<br />
Preisbereich kann man das auch.<br />
Dabei hätten gerade solche Menschen Zeit, genau beim Einkaufen hinzusehen.<br />
Die Verlockungen sind für sie groß. Da wird für XXL-Packungen mit 300 Gramm Schokolade<br />
geworben - aber die sind dann genauso schnell aufgegessen wie die 100-Gramm-Packung.<br />
Oft wird das nicht durchschaut. Viele greifen, aus finanziellen Zwängen, zu<br />
Sonderangeboten. Das sind aber oft nicht die hochwertigen Lebensmittel. Obst, Gemüse,<br />
Vollkornprodukte, Fisch sind teuer. Und dann ist da auch der Gedanke: Ich gönne mir was,<br />
ich habe ja sonst nichts. Genaue Untersuchungen gibt es nicht. Aber es gibt die Vermutung,<br />
dass dann auch mehr gekauft wird, als eigentlich nötig - und das muss dann auch weg.<br />
Sind sie also Opfer der Nahrungsmittelindustrie?<br />
Die Industrie will verkaufen, das ist klar. Es ist ein harter Kampf, sie zur Kennzeichnung von<br />
Bestandteilen zu bringen, und da muss sich auch etwas tun. Aber es gibt vieles, das die<br />
Familien selbst tun müssten. Und das betrifft nicht nur die sozial Schwachen, bei ihnen<br />
bündeln sich nur die Probleme.<br />
Was konkret?<br />
Es geht nicht um das Wissen über Nahrung, es ist unser Verhältnis zu ihr. Kinder müssen<br />
begreifen, dass nicht jeden Tag Sonntag ist, also manche Dinge Genuss sind und nicht<br />
täglich gegessen werden, egal, wie gut sie immer auch schmecken. Klar darf man Pommes<br />
und Eis essen, aber das muss etwas Besonderes bleiben. Milch ist kein Getränk, sondern ein<br />
Nahrungsmittel, mit Kalorien.<br />
Aber viele Kinder wollen kein Schwarzbrot, Rosenkohl.<br />
Sie wollen vor allem Süßes und Salziges, aber nichts Bitteres und Saures. Gerade diese<br />
Geschmacksrichtungen dominieren aber bei gesunden Sachen. Wenn dann eine Familie in<br />
Problemen steckt, das Kind schreit, den Mund aufmacht, alles ausspuckt, gibt es noch mal<br />
Stress. Das ersparen sich meist die Eltern und geben schnell etwas Süßes, um Ruhe zu<br />
haben. Dabei sollten aber Sachen wie Tomaten und Möhren Kindern immer wieder<br />
angeboten werden, es muss zum Alltag der Ernährung gehören. Nur so wird Verhalten<br />
geprägt.<br />
Sie haben auch erfragt, wie viele Mahlzeiten die Familien gemeinsam einnehmen.<br />
Ist es nicht sinnvoller, dass Kinder essen, wenn sie Hunger haben?<br />
Unsere Untersuchung zeigt: Wer regelmäßig isst, wird seltener dick. Die anderen essen<br />
ständig, weil sie dauernd meinen, heute noch nichts gegessen zu haben. Dazu passt, das<br />
Kinder nicht lernen, Versuchungen zu widerstehen. Es wird Kuchen gekauft, wenn es aus<br />
dem Bäckerladen gut riecht, am Wurststand bekommen Kinder eine Scheibe rübergereicht.<br />
Ab welchem Alter soll man Verzicht trainieren?<br />
Ehrlich gesagt, ich finde es schon nicht gut, dass Babys neuerdings immer gestillt werden,<br />
wenn sie schreien. Die Fachwelt ist sich da noch nicht einig. Aber es ist der Einstieg in das<br />
Muster: Jedes Unbehagen wird mit Essen bekämpft.<br />
Gespräch: A. REISER-FISCHER<br />
09.05.2007<br />
http://lev-thueringen.de/spiegel/20070516195528/20070510102530/index.html [16.05.2007 22:35:20]