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Das Untier Und Seine Verantwortung - Kritisches Netzwerk

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den schlechten Reichen und den Großen dieser Erde so tyrannisch unterdrückten Menschen haben<br />

mir ... so großen Ekel und solche Verachtung vor dem Leben eingeflößt, daß ich ... den Zustand<br />

der Toten weitaus glücklicher halte als den der Lebenden und jene, die niemals gelebt haben, für<br />

noch tausendmal glücklicher als die Lebenden, die noch immer unter solch großem Elend<br />

seufzen“(40;37f.). Horstmann sagt dazu: „Zu solch prinzipieller Absage vermag sich ein Voltaire<br />

... allenfalls gegenüber der Kirche, nicht aber gegenüber dem Menschen durchzuringen“(40;38).<br />

Auch Voltaire kennt die Schrecken dieser Welt, wie sich in seinen Romanen und Geschichten<br />

deutlich zeigt: In Zadig, Babuk oder der Lauf der Welt und Geschichte der Reisen Scarmentados<br />

benehmen Menschen sich grundsätzlich als <strong>Untier</strong>e. In Zadig hält der Protagonist die Menschen<br />

sogar für „Geziefer, das sich auf einem Schmutzstäubchen gegenseitig verschlingt“(ebd.).<br />

Allerdings beherrscht Voltaire denselben Kunstgriff wie Erasmus, nämlich sich an der<br />

halluzinogenen Wirkung von Ironie und Spott zu berauschen, so daß ihn die existentielle<br />

Betroffenheit nicht so wie Meslier ereilt. Der „gleichsam olympische Standort“(ebd.) der<br />

Protagonisten und damit des Lesers, gewährt Entlastung von der Grausamkeit der Szenen. <strong>Das</strong><br />

Amüsement des Lesers ist garantiert, wenn in Micromegas zwei Riesen von Sirius und Saturn von<br />

einem winzigen Thomisten, der für sie nur durch eine Lupe erkennbar ist, belehrt werden, daß die<br />

Erde nur um des Menschen willen geschaffen worden sei.<br />

Kaum jemand wird nicht mit einstimmen in das homerische Gelächter der beiden. Dieser Voltaire<br />

eigentümliche Verfremdungseffekt ist überall bei ihm anzutreffen, auch in einer von Horstmann<br />

zitierten Kriegsbeschreibung, in der „hunderttausend Narren unserer Art, die Hüte tragen,<br />

hunderttausend andere Tiere umbringen, die Turbane tragen ... und daß der Streit um ein paar<br />

Schmutzhaufen geht“(40;39). Vielleicht ist es „mühsam getrimmter Galgenhumor“(ebd.), aber<br />

gewiß ist, daß Voltaire nicht in der Lage war, den letzten radikalen Schritt in die Anthropofugalität<br />

zu tun. Paul Thiery d’Holbachs 1770 anonym erschienenes Buch System der Natur nennt er daher<br />

„eine Sünde wider die Natur“(ebd.).<br />

In seinem militanten Materialismus dürfte das System der Natur als legitimer Vollstrecker des<br />

Testamentes des Meslier gelten. D’Holbach vollzieht den Schritt vom Humanismus zum<br />

anthropofugalen Denken. Er verwirft die Sympathie für die von den homerischen Göttern<br />

belächelten Sterblichen zugunsten einer distanzierten und „affektneutralen orbitalen“ Sichtweise.<br />

Damit haben die unzähligen Versuche der Gattung seit der griechischen Stoa, sich selbst ungetrübt<br />

von Eigenlob, anthropozentrischem oder theozentrischem Selbstbetrug, in den Blick zu<br />

bekommen, endlich Erfolg (vgl.40;40). Zugleich entdeckt d’Holbach „den einzig möglichen<br />

Fluchtweg aus dem Gefängnis des Gattungsnarzißmus, nämlich die philosophische Erinnerung an<br />

das urtümlich mythologische Bewußtsein, daß wir Fremde, Ausgestoßene, daß wir die Parias der<br />

Schöpfung sind, weil wir als einzige spüren, daß das Organische nichts ist als ein großes<br />

wechselseitiges Würgen und Verschlingen, ein Einverleiben ohne Ende, ohne Sinn, ohne<br />

Ziel“(40;41).

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