Das Untier Und Seine Verantwortung - Kritisches Netzwerk
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propagandistische Wirkung der Satire berücksichtigt, die andererseits von<br />
Horstmann klar erkannt wurde.<br />
V.2.2.2 Kathartische Bedeutung des Kynismus für unsere Zeit<br />
In der von Keith Dowman aus dem Tibetischen übersetzten Hagiographie<br />
„Der heilige Narr“(27) wird von einem Mann berichtet, der sich zeit seines<br />
erwachsenen Lebens im Zustand der Trunkenheit befand, was für ihn<br />
dauernde Katharsis bedeutete. Er wurde, so sagt die Hagiographie über<br />
hundert Jahre alt, in denen er „zum Wohle aller Lebewesen wirkte“. Man<br />
könnte diesen Mann, den berühmten Tantriker, Drugpa Künleg, als den<br />
tibetischen Diogenes bezeichnen. Für einen Menschen, der nicht an die<br />
Lehren des Buddhismus glaubt und für den infolgedessen "die<br />
Erleuchtung" durch Ablösung von den Dingen, die Drugpa Künleg durch<br />
den tantrischen Weg der Befriedigung aller Bedürfnisse, anstelle ihrer<br />
Unterdrückung 120 , erlangt hatte, kein erstrebenswertes Ziel ist, besteht<br />
trotzdem die Möglichkeit, aus dessen ungezügeltem Lebenswandel<br />
ebenso wie aus dem des Diogenes Anregungen zu beziehen.<br />
<strong>Das</strong> Leben, sowohl des tibetischen Heiligen, als auch des ersten Kynikers<br />
zeichnet sich aus durch unbekümmerte Kritik an Autoritäten und das<br />
Fehlen jeder Dogmatik. So ist das herausragendste Merkmal dieser<br />
beiden Weisen ihre Frechheit. Die Frechheit, mit der Drugpa Künleg die<br />
Öde des traditionalistischen Klosterlebens bloßstellt (vgl.27;74), wie die<br />
Frechheit, mit der Diogenes Platon attackiert und ihn dadurch mitunter<br />
auch vor Irrtümern bewahrt. „Als Platon die Definition aufstellte, der<br />
Mensch ist ein federloses zweifüßiges Tier, und damit Beifall fand, rupfte<br />
er einem Hahn die Federn aus und brachte ihn in dessen Schule mit den<br />
Worten: ‘<strong>Das</strong> ist Platons Mensch; infolgedessen ward der Zusatz gemacht:<br />
‘Mit platten Nägeln’“ (92;207,25;314).<br />
In manchen überfüllten Städten der dritten Welt ist sogar Frechheit nötig,<br />
um überhaupt dazusein und sich nicht von Baggern und Planierraupen<br />
ohne Gegenwehr beseitigen zu lassen. Trotzdem haben diese Menschen,<br />
die mit dem Rücken zur Wand leben, mehr spontane Lebensfreude, als<br />
die Reicheren der ersten Welt. Die Menschen in den Slums von<br />
Großstädten 121 wie Mexico City haben mit Diogenes und Drugpa Künleg<br />
gemeinsam, daß sie nichts besitzen. Die Kreativität, die diese beiden<br />
120 Diese schreibt der Weg des Yoga im Gegensatz zu Tantra vor.<br />
121 „Die Stadt allein kann den Zyniker, der ihr ostentativ den Rücken kehrt, in die Gruppe<br />
ihrer Originale aufnehmen“ (92;34f.).