Das Untier Und Seine Verantwortung - Kritisches Netzwerk
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eines Kindes Geziefer, das sich auf einem Staubkorn um winzige Dinge prügelt! Mit keinem Wort<br />
wird die Befürchtung genährt, daß es sich um reale Menschen handelt.<br />
III.3.8 Schopenhauers deutliche Formulierung anthropofugalen Denkens<br />
Alles in allem war der deutsche Idealismus und sein „gespreizter“ Umgang mit dem Absoluten ein<br />
philosophischer Irrweg. Nur einem ist es gelungen, mit seinem Werk aufzuzeigen, was ein Hegel,<br />
Schelling oder Fichte hätte leisten können, ohne die Augenkrankheit des Anthropozentrismus. Die<br />
Rede ist von Arthur Schopenhauer, der seine unorthodoxe, dem romantisierenden deutschen<br />
Idealismus nicht konforme Geisteshaltung mit dem Ruin seiner akademischen Karriere bezahlte.<br />
Er versagte sich „dialektischen Glasperlenspielen“ und „a priorischen Weltsystemen“. In ihrem<br />
Aufbau zeigt „Die Welt als Wille und Vorstellung“ noch die Methode eines „spekulativen<br />
Idealismus“(40;45), während inhaltlich deutlich d’Holbachs Aufklärung hindurchscheint.<br />
D’Holbachs Aufweis der Denkbarkeit einer menschenleeren Welt findet bei Schopenhauer sogar<br />
eine Erweiterung durch den Nachweis ihrer Wünschbarkeit. Schopenhauers Denken beruht im<br />
Gegensatz zu Hegels Phänomenologie auf von a priorischen Denkapparaten unzensierter<br />
Wirklichkeitserfahrung, der tiefen Einsicht in das Leiden am <strong>Das</strong>ein. Leiden ist bei Hegel<br />
„unglückliches Bewußtsein“, Resultat des „Wahnsinns des Eigendünkels“(ebd.), „seine<br />
Spekulation kümmert sich im Wortsinn einen Dreck um das wimmernde, das brüllende Fleisch,<br />
die Tonnen von Menschenaas, die der Weltgeist bei jedem Schritt vorwärts hinter sich läßt, um die<br />
Völker und Nationen, die als ‘bewußtlose Werkzeuge’ nach Gebrauch am Wege zurückbleiben 67<br />
und denen Hegel bescheinigt, sie seien fortan ‘rechtlos’ und ‘zählen nicht mehr in der<br />
Weltgeschichte’“ (40;45f.).<br />
Schopenhauer hat diesen Rückfall in Leibniz’ Theodizee stets gegeißelt. Bei ihm verdankt alles<br />
Leben sein <strong>Das</strong>ein einem „zwanghaften und blindwütigen Lebensdrang“. Kaum ist es geboren, so<br />
fällt es auch schon übereinander her, das <strong>Untier</strong> ebenso wie alles „sich zerfleischende<br />
Vitale“(40;47). Sinn und Ziel sind ebensowenig in der Gattungsgeschichte, wie in der<br />
individuellen Existenz anzutreffen. Doch leidet das <strong>Untier</strong> noch viel mehr, als andere Lebewesen:<br />
„Gerade die philosophische Reflexion ist deshalb bei Schopenhauer immer auch qualvolles<br />
Denken“(40;48). Die bloße Vorstellung einer „Menschheitsdämmerung“(ebd.), ist folglich für<br />
Schopenhauer nicht mehr ausreichend. Sein anthropofugales Denken hat Forderungscharakter: so<br />
sehr diese Einstellung heutigem (zur Zeit Schopenhauers) europäischem Denken auch widerstrebt,<br />
ist es doch „die wichtigste aller Wahrheiten“(ebd.), daß das <strong>Das</strong>ein eine Irrung ist, aus der<br />
67 Eine Stelle in Elias Canettis „Masse und Macht“ veranschaulicht diesen Vorgang: „Wer<br />
über Menschen herrschen will, sucht sie zu erniedrigen ... Sein letztes Ziel ist es immer,<br />
sie sich ‘einzuverleiben’ und auszusaugen. Es ist ihm gleichgültig, was von ihnen<br />
übrigbleibt. Je ärger er ihnen mitgespielt hat, um so mehr verachtet er sie. Wenn sie zu<br />
gar nichts mehr nutze sind, tut er sie heimlich ab wie seinen Kot und sorgt dafür, daß sie<br />
die Luft seines Hauses nicht verpesten“(20;231f.).