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Ivan Dobnik - Vilenica

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360 · Guy Helminger<br />

Neubrasilien<br />

(Auszug)<br />

Am Morgen dieses langen Novembertages 1999, gegen sechs Uhr, war ein<br />

kleiner Transporter auf den spärlich beleuchteten Platz neben dem Bahnhofsgebäude<br />

in Esch-Alzette gerollt, hatte sich auf die Mauer, über der die<br />

Schienen nach Luxemburg-Stadt lagen, zubewegt und abrupt gebremst.<br />

Einige Sekunden später wurden die hinteren Türen aufgerissen, und ein<br />

Lichtstrahl schoß zwischen den Traubenkisten hindurch ins Innere des<br />

Wagens. Die zehnjährige Tiha verengte ihre Augen zu Schlitzen, aber das<br />

gebündelte Licht verschwand sofort wieder. Der Fahrer, dessen Gesicht aus<br />

Wachs geformt zu sein schien, nahm mit schnellen Griffen den rechten<br />

Turm aus Traubenkisten von der Ladefläche, winkte alle heraus, stellte die<br />

Trauben, nachdem der Wagen leer war, wieder hinein, nahm seinen Strahler,<br />

stieg ins Auto und fuhr davon.<br />

Tiha sah den Wagen über den Parkplatz beschleunigen; die Bremslichter<br />

leuchteten einmal hell auf, bevor er auf die Straße rollte. Dann war er hinter<br />

einem Haus verschwunden.<br />

„Wir sind da“, sagte ihre Mutter.<br />

Tiha bemerkte ein Glänzen in ihren Augen und dachte, Mama freut sich.<br />

Auch sie war froh, dass der Mann mit dem Wachsgesicht weg war. Er<br />

hatte unterwegs nie gesprochen, war während der Pausen nervös auf und<br />

ab gegangen, hatte schon nach kurzer Zeit wieder zur Eile ermahnt. Dabei<br />

hatten sie immer irgendwo gehalten, wo sowieso niemand vorbeikam,<br />

auf einer abgelegenen Straße, in einem Waldstück. Das Wachsgesicht aber<br />

hatte immer nur mit der Hand gewedelt, wenn es weitergehen sollte, außer<br />

beim letzten Mal, als Mr. Carter ihn gefragt hatte, wann sie denn<br />

ankämen, da war ihm eine Uhrzeit rausgerutscht. Aber nicht einmal die<br />

stimmte, so dunkel wie es war, konnte es gar nicht neun Uhr sein.<br />

Auf der anderen Seite des Parkplatzes standen zwei schwarze Taxis. Die<br />

Fahrer hatten die Köpfe in den Nacken gelegt und dösten.<br />

Biljana strich ihrer Tochter über die Haare. Tiha mochte das, aber an diesem<br />

Morgen hatte sie das Gefühl, es liege keine Zärtlichkeit, sondern Verlegenheit<br />

in der Geste.<br />

„Was machen wir denn jetzt, Mama?“, fragte sie.<br />

Die Umstehenden sahen sie lächelnd an. Einige hielten ihre Koffer in der<br />

Hand, als wüßten sie, wohin sie gehen sollten, als würden sie jeden Augenblick<br />

abgeholt.<br />

„Wir warten, bis die Geschäfte aufmachen. Dann können wir deinen Vater<br />

anrufen“, antwortete Biljana.<br />

„Aleksandar wird gleich hier sein“, sagte Mr. Carter. Er sagte es so übertrieben,<br />

dass Tiha sofort wußte, dass es noch dauern würde, bis ihr Vater<br />

käme. Sie war zehn, da mußte niemand mit ihr reden wie mit einer Fünfjährigen!

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