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Ivan Dobnik - Vilenica

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Guy Helminger · 361<br />

„Ach ja?“, antwortete sie.<br />

Mr. Carter legte erstaunt den Kopf schief. Er war ein netter Mann, den<br />

Tiha bereits aus Trpezi kannte. Aber er konnte schlecht lügen. Sie ahnte<br />

sofort, wenn er schummelte oder Geschichten erzählte, die wahr klangen,<br />

es aber nicht waren. Er hatte nie in ihrem Dorf gewohnt, zumindest nicht,<br />

seit Tiha sich erinnern konnte, war aber einmal die Woche abends aus Berane<br />

gekommen, um mit den Männern Karten zu spielen. Das war, bevor<br />

ihr Vater weggegangen war. Tiha wußte, dass er eigentlich Adnan Dobrić<br />

hieß und für eine Zeitung geschrieben hatte. Warum jeder ihn Mr. Carter<br />

nannte, wußte sie nicht. Seine Frau Nada stand neben ihm, das lange,<br />

dunkle Haar hochgesteckt, was altmodisch aussah. Alles an ihr sah altmodisch<br />

aus. Sie hatte fast so wenig gesprochen wie das Wachsgesicht, seit sie<br />

zu ihnen gestoßen war. Aber das machte Tiha keine Angst, im Gegenteil.<br />

Nada war Ärztin. Sie hatte Tiha den Fuß abgetastet und verbunden, als sie<br />

beim Marsch durch den Wald umgeknickt war.<br />

„Damit das so schnell nicht wieder passiert“, hatte sie zu Tiha gesagt.<br />

Mehr hatte sie nicht gesagt, auch nicht, als das Wachsgesicht wieder mit<br />

der Hand gefuchtelt hatte. Nada war sitzen geblieben, hatte ihren Kopf<br />

gewendet und das Wachsgesicht auf eine Weise angesehen, dass sofort<br />

klar gewesen war, wer hier bestimmen würde, wann es weiterginge. Das<br />

Wachsgesicht hatte sich daraufhin umgedreht und gewartet, bis alle von<br />

selbst aufgestanden und weitermarschiert waren.<br />

…<br />

„Wir können auch nicht hier bleiben“, sagte einer der Männer.<br />

„Wenn die Polizei nicht kommt, müssen wir halt zur Polizei.“<br />

„Ich frage den Taxifahrer“, sagte Mr. Carter und strich mit beiden Händen<br />

über seine graue Frisur.<br />

Die andern blickten ihm nach, als er den Parkplatz überquerte, an die<br />

Scheibe des Taxis klopfte und mit dem Mann redete. Er konnte bereits<br />

einige Brocken Deutsch und das, so hatte er gehört, verstand man hier<br />

in Luxemburg. Aber der Taxifahrer schien nicht aus Luxemburg zu sein.<br />

Er sprach französisch. Also reduzierte Adnan seinen Satz auf ein einziges<br />

Wort, das er wiederholte. „Polizei“, sagte er, dann auf serbisch: „milicija“.<br />

Der Taxifahrer wies mit dem Finger in Richtung Frontscheibe und nickte.<br />

„Dorthin?“, fragte Adnan.<br />

„Si“, sagte der Taxifahrer, „tout droit“.<br />

Adnan sah die Straße hoch. Jenseits des Bahnhofsgebäudes erstreckte sich<br />

ein weiterer Parkplatz, auf dem Busse hielten. Gegenüber lagen Geschäfte,<br />

die noch geschlossen hatten. Die Fassaden sahen grau und schmutzig aus,<br />

nicht wie im reichsten Land Europas. Er bedankte sich und ging zu seinen<br />

Landsleuten zurück. Einige griffen nach ihren Koffern, noch ehe Adnan<br />

ihnen erklärt hatte, dass die Polizeistation direkt vor ihnen lag. Sie mussten<br />

nur der Straße folgen.

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