Die Seele Chinas - Chinaseiten
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Auch von Europa kamen bedeutende Männer nach Tsingtau. Derjenige, auf den die chinesische<br />
Kultur den tiefsten Eindruck gemacht hat, war Graf Keyserling. Auf seinen<br />
Wunsch brachte ich ihn zusammen mit einer ganzen Reihe von bedeutenden Persönlichkeiten.<br />
Teils höhere Beamte, teils Gelehrte waren versammelt. <strong>Die</strong> Mehrzahl waren<br />
Konfuzianer; Taoisten und Buddhisten waren ebenfalls vertreten. Graf Keyserling hat in<br />
seinem Reisetagebuch seine Eindrücke von diesem Mahl berichtet. Ich möchte hier nur<br />
hinzufügen, daß ich selten mit solcher Freude den Dolmetscher gespielt habe. Während<br />
so oft das Zusammensein von Europäern und Chinesen kaum über freundschaftliches<br />
Zutrinken oder die alleroberflächlichsten konventionellen Gespräche hinausgeht, war<br />
hier, dank der fast medialen geistigen Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit des Grafen,<br />
im Augenblick der Kontakt hergestellt, und die Unterhaltung bewegte sich in<br />
wesentlichen Dingen. <strong>Die</strong> Chinesen waren vom Grafen Keyserling entschieden<br />
beeindruckt. Noch Jahre später hat mich der Präsident Hsü Schï Tsch'ang, der damals<br />
in Tsingtau auch bei Tisch war, nach ihm gefragt. Sie hatten von ihm den Eindruck eines<br />
bedeutenden, sehr lebendigen Mannes, dem es Ernst sei, wirklich von der chinesischen<br />
Kultur zu lernen. Von allen Seiten kamen sie ihm entgegen. Denn nichts öffnet in China<br />
die Herzen so, wie die aufrichtige Absicht einer gegenseitigen Verständigung. Freilich<br />
mit ihrem tiefsten und letzten Wissen gehen sie nicht leicht heraus. Eine gewisse Scheu<br />
hält sie stets davon zurück. Man redet nur von dem allgemein Zugänglichen; wer den<br />
Blick hat, wird das Tiefere aus dem Sein und der Persönlichkeit von selbst entnehmen.<br />
Aus der alten chinesischen Geschichte werden manche Beispiele davon erzählt, daß<br />
zwei Menschen einander nur zu sehen brauchen, und eine Weile beieinander zu sein,<br />
um sich in den tiefsten Prinzipien zu verstehen.<br />
Graf Keyserling saß, nachdem die Gesellschaft sich zerstreut hatte, noch bei mir und<br />
sprach über sein Erleben. Er hatte einen tiefen Eindruck bekommen von der ruhigen<br />
Klarheit der alten Herren und der letzten Einfachheit und Großzügigkeit ihres Wesens.<br />
Aber worin er den Westen überlegen glaubte, das war die Vitalität, die Nervenkraft und<br />
Lebendigkeit. Er hatte den Eindruck, als wäre das chinesische Wesen westlicher Lebendigkeit<br />
nicht ganz gewachsen. Ich sagte ihm, daß ich nur wünsche, daß er Ku Hung<br />
Ming kennen lernen möchte, der an Vitalität und Nervenausdauer hinter keinem<br />
Europäer zurückstehe. Wie es der Zufall wohl fügt, so klopfte es in diesem Moment an,<br />
und Ku Hung Ming trat ein, um sich für die Nacht anzumelden. Er hatte noch nicht das<br />
frugale Abendessen, das er sich bestellt hatte, fertig, da war das Feuer der Unterhaltung<br />
schon eröffnet, und wirklich, der Graf hatte einen Menschen gefunden, der ihm an<br />
Vitalität gewachsen war. <strong>Die</strong> Unterhaltung sprühte förmlich Funken, infolge der<br />
gegenseitigen Induktion. Wenn der Graf das Wort ergriffen hatte, konnte Ku Hung Ming<br />
es kaum abwarten, bis er selbst an die Reihe kam. Dann redete er und schrieb:<br />
chinesisch, französisch, deutsch, englisch, alles durcheinander. <strong>Die</strong> ganze<br />
Weltgeschichte und Gottes Schöpfungsplan, die <strong>Seele</strong> des Fernen Ostens und die<br />
Raubtiernatur des Westens, alles was der östliche Prophet auf Herz und Gewissen<br />
hatte, dessen entledigte er sich dem Grafen gegenüber. Endlich waren die Getränke zu<br />
Ende. Der Morgen schien dämmernd durch die Fenster herein. Der Boden war fußhoch<br />
bedeckt mit Zetteln, die mit chinesischen und europäischen Sprüchen, Andeutungen,<br />
Bonmots und Zitaten vollgeschrieben waren. Ku Hung Ming stand auf und ging zu Bett,<br />
und Graf Keyserling bekannte, daß hier tatsächlich ein Chinese von vollgültiger<br />
Lebendigkeit ihm gegenüber gestanden habe. -<br />
Aber auch die schönen Tage von Tsingtau gingen vorüber. Lange schon hatte sich der<br />
Horizont verdunkelt. Endlich brach der Krieg herein. Wie ein Posaunenstoß fuhr es<br />
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