Die Seele Chinas - Chinaseiten
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Nun wendet sich der Weg. Ernst und streng führen die Stufen weiter empor ins Gebirge<br />
hinein. An einer Ecke steht ein Pavillon bei einer Brücke. Man kann hier ruhen und Ausschau<br />
halten. Ein Wassersturz rinnt über Felsen unter der Brücke durch. Inschriften und<br />
Gedichte, die in den Stein gemeißelt worden, singen das Lob der Landschaft. Aus allen<br />
Zeiten haben berühmte Männer hier ihre Spur in Schrift und Wort zurückgelassen und<br />
bilden eine Versammlung von Dichtern und Weisen über Zeit und Raum hinweg.<br />
Bezeichnend für die neue, pietätlose Zeit ist es, daß ein Apotheker aus Peking auch<br />
Einlaß suchte in diese vornehme Welt. In schönen Zeichen ließ er eine lange Inschrift<br />
eingraben in einen Felsen, die eine Empfehlung war für sein Arzneigeschäft. Zum Glück<br />
blieb sie nicht lange stehen. Sie wurde bald entdeckt von dem Beamten, dem die Aufsicht<br />
zusteht über dieses heilige Naturschutzgebiet, und auf eigene Kosten mußte der<br />
pietätlose Geschäftsmann sie wieder auslöschen lassen aus dem Felsengrund. <strong>Die</strong>se<br />
Strenge wirkt wohltuend. Hier endlich lst einmal ein Platz, wo man Natur und Geschichte<br />
ungestört gegenübersteht, wo die häßlichen Reklameschilder amerikanischer Zigarettenfabriken<br />
oder japanischer Lebenselixierschwindler nicht die Gegend ruinieren, die<br />
sonst ganz China überzogen haben mit einer eklen Pilzschicht gemeiner Reklame.<br />
Freilich auch die alten Zeiten hatten ihre Lasten. Besonders zur Pilgerzeit, da wimmelte<br />
der Berg von Bettlern aller Art, die hier ihren Anteil begehrten am Mahl des Lebens.<br />
Scheußliche Gestalten mit ekelhaften Krankheiten drängen sich herzu, blasse Kinder<br />
und widrige Krüppel kriechen umher. Manche werfen sich zu Boden, so daß man über<br />
sie hinweg muß. Manche haben sich an Felsenecken mit aufgeschichteten Steinen Winkel<br />
zurechtgebaut, in denen sie ihre Wohnung aufschlagen. Manche wimmern mit<br />
gebrochener Stimme. Andere schlagen grimmig rücksichtslos mit dem Kopf auf den<br />
Stein, bis man ihnen etwas gibt. Verstümmelte Glieder werden emporgereckt.<br />
Ein Blinder tastet sich heran. Lahme Kinder weinen. Uralte, versteinerte Alte raunen<br />
dumpf. Und alle, alle wollen Geld, wollen Mitleid, und wo das Mitleid nicht mehr wirkt, da<br />
nehmen sie den Abscheu ihres Anblicks zu Hilfe, von dem man sich durch eine Gabe<br />
loskaufen muß.<br />
Es ist ein entsetzliches Erlebnis, diese Schar von Elend, die den Pilgerweg säumt.<br />
Wüßte man nicht, daß auch dies Elend ein Gewerbe ist, wohl organisiert und geordnet,<br />
daß Krüppel vermietet werden und günstige Ecken verpachtet, so wäre es noch unerträglicher.<br />
So mäßigt der Eindruck des Grotesken dieser seltsamsten aller<br />
Gewerbearten die innere Empörung über die Möglichkeit so vielen Menschenleids. Denn<br />
es zeigt sich, daß das Leben überall, auch in der gräßlichsten Hölle, sich noch<br />
Anpassungen schafft, die es erträglich machen. Man muß sich genügend mit kleinem<br />
Geld versehen, daß man jedem Bettelnden ein Geldstück reichen kann. Denn wehe,<br />
wenn einem unterwegs das Geld ausgeht! Man kann als tüchtiger Europäer durch die<br />
Reihe der Bettler hindurchdringen, fremd, ohne etwas zu geben. Nach ein paar<br />
Versuchen gewöhnen sie sich daran und nehmen einen solchen Europäer hin, wie ein<br />
Naturereignis, das man an sich vorübergehen läßt. Wenn ein Tiger des Wegs käme,<br />
würde er ja auch keine Almosen spenden. Aber wenn man erst einmal den Weg des<br />
Mitleids beschritten und angefangen hat, Almosen zu spenden, und wollte dann<br />
aufhören in der Mitte, so kommt nicht nur die Begehrlichkeit sondern auch das empörte<br />
Gerechtigkeitsgefühl, das keine ungleiche Behandlung duldet, in Betracht, und man wird<br />
verfolgt von stöhnenden, heulenden, brüllenden Gestalten, die einen die Verzweiflung<br />
verstehen lassen, die den antiken Menschen packte, wenn die Erinnyen sich an seinen<br />
Fuß geheftet hatten. »Das Tor der Güte ist leicht zu öffnen, aber schwer zu schließen«,<br />
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