Die Seele Chinas - Chinaseiten
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ei Nacht die Sterne vom Himmel, gerade als ob man ihnen hier oben näher wäre. Der<br />
Priester aber war ein alter Taoist, der geheimnisvolle Sagen und Märchen erzählte, während<br />
am flackernden Feuer das Wasser kochte und wir dampfenden Tee zusammen<br />
tranken.<br />
Kurz vor meiner Abreise aus China machte ich mit lieben Freunden zusammen noch<br />
eine Tour auf den heiligen Berg. Es war vieles anders geworden inzwischen. <strong>Die</strong> Eisenbahn<br />
führt jetzt vorüber. Ein modernes Hotel beim Bahnhof bildet bequeme Absteigegelegenheit.<br />
Tempel und Mauern und alles, was ans Altertum erinnert, sind mehr zerfallen.<br />
Das Heiligtum der mächtigen Erhörung - Ling Ying Si - war niedergebrannt, und die<br />
Bronzestatuen der Gottheiten standen im Freien bei den großen alten Bäumen des<br />
Hofes. Der Aufstieg war wieder naß und regnerisch. Der Abend auf dem Gipfel war kalt<br />
und stürmisch. Der Wind heulte in allen Tonarten und rüttelte an den Türen, und während<br />
wir beim Grog zusammensaßen, blies er oft ganze Schwaden von feuchtem<br />
Gewölk herein. Der Priester hatte inzwischen gewechselt. Ich wollte mit ihm wieder<br />
reden über den Berg und seine Geheimnisse. Aber er hatte keinen Sinn dafür. Er<br />
gehörte zur modernen Schule, und als er hörte, daß ich aus Peking komme, da<br />
interessierte ihn vor allem, von den Führern der modernen literarischen Bewegung und<br />
ihrem Tun und Treiben zu hören.<br />
<strong>Die</strong> Nacht war unruhig, und es regnete in Strömen. Aber der Morgen belohnte für alles<br />
... Wir traten hinaus ins Freie, und plötzlich ging der Nebel wie ein Vorhang auseinander.<br />
Weit öffnete sich der Blick bis hin zum Horizont, wo hinter glutroten Wolkenstreifen die<br />
Sonne sich nahte, während in den Falten des Gebirges tief drunten die weißen Wolkenflocken<br />
hingen und der Fluß durch die Ebene hin aufblitzte. Es war aber nur ein Augenblick.<br />
Der Vorhang schloß sich wieder. Aufs neue brauten die Wolken, und der feuchte<br />
Wind blies sie durcheinander.<br />
Beim Abstieg hatten wir noch ein Erlebnis. Schon tags zuvor hatte sich der eine Lederriemen<br />
an meinem Tragstuhl gelöst. Ich hatte den Trägern gesagt, sie sollen ihn über<br />
Nacht in Ordnung bringen. Das hatten sie aber nicht getan. Sie dachten, er werde schon<br />
noch halten. -<br />
Manchmal hat es in China auch seine Vorzüge, wenn man nicht Chinesisch kann. Man<br />
verliert entschieden an Selbstachtung, wenn man die Gespräche, die die Träger über<br />
einen führen, mit anzuhören verurteilt ist. Man hat oft Mitleid mit diesen Leuten, daß sie<br />
als Tragtiere ein unwürdiges Dasein führen. Es kommt das aber nur auf die Auffassung<br />
an. Sie sprechen miteinander über die »Lasten«, die sie tragen, in vollkommen harmloser<br />
Weise. Sie werden nur nach Größe und Gewicht beurteilt. Das Gefühl, daß es<br />
unwürdig für sie sei, daß sie als Menschen andere Menschen tragen, kennen sie gar<br />
nicht. Das Getragene kommt für sie in keiner Weise als Mensch in Betracht, so wenig<br />
wie der Kohlensack auf der Schulter eines Kohlentrimmers.<br />
Ich hörte nun, als wir im Geschwindschritt auf den steilen Stufen von der südlichen Himmelstür<br />
in die Tiefe getragen wurden (denn so langsam der Aufstieg ging, so rasch geht<br />
es hinunter), folgendes Gespräch mit an:<br />
Mein einer Träger begann leise zu jammern: »Heute sind die Stufen so glatt, man<br />
rutscht bei jedem Schritt aus. Meine Schuhe sitzen auch nicht, und dann ist mein Kerl<br />
auch zu schwer. Ich habe immer das Gefühl, als würde ich heute noch fallen.«<br />
Ein besonders wilder Mensch unter den Trägern, der gerade außer <strong>Die</strong>nst war und<br />
nebenher ging, redete ihm zu: »Wirf ihn doch weg, und laß ihn verunglücken. Viel Trinkgeld<br />
ist von dem doch nicht zu erwarten.«<br />
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