Die Seele Chinas - Chinaseiten
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ihnen gebührte: die Universität. Hier sollten die alten Schriften philologisch, historisch<br />
und philosophisch bearbeitet und für die Gegenwart fruchtbar gemacht werden. In den<br />
Schulen aber wurden Lesebücher eingeführt, die nicht mehr in der hieroglyphisch<br />
schweren Sprache vergangener Jahrtausende geschrieben waren, sondern die, dem<br />
Gedankenkreis der Gegenwart entnommen, die Schüler bekanntmachen sollten mit dem<br />
Gebrauch ihrer Muttersprache in Wort und Schrift.<br />
Man kann die Bedeutung dieser Reform kaum überschätzen. Denn nicht nur wurde der<br />
ganze Bildungsgang, die ganze Art des Lernens von Grund aus nach den Prinzipien der<br />
Pädagogik umgestaltet; auch der Konfuzianismus hörte damit auf, die religiöse Grundlage<br />
der Bildung zu sein. Literarische Bildung hatte man im alten China in der Schulgemeinschaft<br />
erlangt, die letzten Endes auf den Meister der zehntausend Generationen,<br />
Konfuzius, zurückging. Wenn diese Schulgemeinschaft auch nicht die straffe Organisation<br />
einer Kirche hatte, so bildete sie doch einen festen Lebens- und Weltanschauungshintergrund.<br />
Der »Meister« schwebte unsichtbar über allen Schulen. Wissenschaft war<br />
zugleich Religion und Moral. <strong>Die</strong> Schrift war heilig. Beschriebene Papiere wegzuwerfen,<br />
galt als Frevel. Man hatte in den Schulen Kasten aufgehängt, in denen sie gesammelt<br />
wurden, um von Zeit zu Zeit feierlich verbrannt zu werden. Mit dem Lernen ging praktischer<br />
<strong>Die</strong>nst im Hause des Lehrers häufig Hand in Hand. Der Schüler wuchs hinein in<br />
die große, die Jahrhunderte umspannende Kulturgemeinschaft. Damit daß die konfuzianischen<br />
klassischen Schriften Gegenstand des Universitätsstudiums geworden sind und<br />
ihre Grundsätze - zum Teil stark modifiziert - nur noch im Unterrichtsfach der Ethik<br />
gelehrt werden, ist eine neue Einstellung von selbst gegeben. Konfuzius wird zwar noch<br />
mit Achtung und Verehrung genannt als Weiser des Altertums, aber die lebendige<br />
Beziehung ist unterbrochen. <strong>Die</strong> Schule ist entkirchlicht.<br />
Als Ts'ai Yüan P'e dann die Leitung der Pekinger Reichsuniversität übernahm, schuf er<br />
sie um zu einer umfassenden Bildungs- und Forschungsanstalt. Er gliederte sie in<br />
Fakultäten und Abteilungen. Der Lehrkörper bekam dadurch, daß er die Dekane und<br />
den Prorektor wählte, selbständigen Anteil an der Leitung des Ganzen. Es gelang Ts'ai<br />
Yüan P'e, die bedeutendsten jüngeren Kräfte heranzuziehen. Ein unglaublich<br />
produktives wissenschaftliches Leben begann. Trotz geringer Bezahlung, die infolge der<br />
trostlosen Finanzverhältnisse oft monatelang im Rückstand bleibt, herrscht eine<br />
beispiellose Schaffensfreudigkeit unter den Professoren und ein enger Kontakt zwischen<br />
Lehrern und Studenten. Ts'ai Yüan P'e hat die unbedingte Freiheit der Wissenschaft<br />
zum Prinzip gemacht. Auch die kühnste, revolutionärste Weltansicht kam zu Wort, aber<br />
auch stark konservativ gerichtete Lehrkräfte konnten sich unbehindert beteiligen. Selbst<br />
der Reaktionär Ku Hung Ming war eine Zeitlang Dozent an der Universität.<br />
Im allgemeinen kann man sagen, daß die Pekinger Universität an der Spitze aller geistigen<br />
Bewegungen <strong>Chinas</strong> steht und daß sie eine lebendige Kraft in unmittelbarem Kontakt<br />
mit dem Volksleben ist. <strong>Die</strong> Professoren halten es alle für eine Ehre, dieser Gemeinschaft<br />
anzugehören. <strong>Die</strong> Studenten suchen und finden Berührung mit den breitesten<br />
Schichten des Volkes. Sie sind freiwillig tätig an Abendschulen für das Volk. Alles, was<br />
an wissenschaftlichen, ästhetischen, sozialen Fragen auftaucht, findet Interesse, und<br />
eine Menge freier Vereinigungen bildeten sich, in denen Dozenten und Studenten sich<br />
an die Bearbeitung neu auftauchender Fragen machen. So hat denn die Pekinger Universität,<br />
wie sie durch Ts'ai Yüan P'e und seine Mitarbeiter geschaffen wurde, einen<br />
überaus wichtigen Platz im geistigen Leben des neuen China.<br />
Eine der bedeutendsten Taten dieses Kreises um die Pekinger Reichsuniversität ist die<br />
Schöpfung einer neuen chinesischen Umgangssprache. <strong>Die</strong> alte chinesische Schrift-<br />
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