Die Seele Chinas - Chinaseiten
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Siebzehntes Kapitel<br />
Okkultismus und religiöse Strömungen<br />
Das Aufwachen okkultistischer und religiöser Strömungen ist in seinem gegenwärtigen<br />
Umfang eine ganz neue Erscheinung in China. Wohl haben sich auch in den letzten<br />
Jahrzehnten unter dem Volk religiöse Strömungen gezeigt, die zur Bildung von Geheimsekten<br />
geführt haben. In diese Richtung gehört z. B. die christliche Bewegung der<br />
sogenannten Taipings oder die anti-christliche der Boxer. Aber das waren halbbewußte<br />
Ausbrüche vulkanischer Art von verdrängten Komplexen, die auf diese Weise zu einer<br />
irrationalen Äußerung kamen. Wenn bei der Boxerbewegung auch einzelne Beamte,<br />
besonders unter den wenig gebildeten und primitiven Mandschus an die Bewegung<br />
geglaubt haben, so war und blieb das Ganze im wesentlichen eine lokal beschränkte<br />
Massenpsychose. Tiefere seelische Gebiete wurden nicht berührt. Daher war auch das<br />
rasche Abebben der Bewegung und ihr Umschlag in die neue Zeit möglich.<br />
<strong>Die</strong> gebildeten Kreise in China waren stets sehr aufgeklärt und nüchtern. <strong>Die</strong> Form religiöser<br />
Bräuche hatte über die Bewegung der Gefühle gesiegt. Ein etwas steriler Agnostizismus<br />
war das Allgemeingut dieser Menschen. Man unterhielt sich wohl gelegentlich<br />
über Gespenstergeschichten. Man leugnete auch keineswegs die Möglichkeit okkulter<br />
Erscheinungen, die im Osten doch allzu zahlreich auftreten, um ignoriert werden zu<br />
können, besonders da Betrug als Gelderwerb auf diesem Gebiet nicht in Frage kommt.<br />
Aber man hatte sich mit diesen Dingen abgefunden. Man nahm an, daß, wie der Leib<br />
mit dem Tode nicht plötzlich verschwinde, sondern einem allmählichen Auflösungsprozeß<br />
anheimfalle, so auch der psychische Teil des Menschen den Tod eine Zeitlang<br />
überdauere, um sich im Lauf der Zeit ebenfalls aufzulösen, höchstens daß da, wo starke<br />
Geisteskraft die Elemente der <strong>Seele</strong> zusammenhalte, die Persönlichkeit auf einer<br />
ätherförmigen Basis mit der Möglichkeit der verschiedenen Stufen der Materialisation<br />
auf Kosten von lebendem Plasma sich längere Zeit erhalten könne. Solche Wesen seien<br />
dann Götter und Dämonen, die durch viele Jahrhunderte dauern können, solange sie<br />
innerhalb der lebendigen Menschen günstige Anknüpfungspunkte finden. <strong>Die</strong>se<br />
Anschauungen scheinen dem europäischen Beobachter in Widerspruch zu stehen mit<br />
der Lehre von Karma und Wiedergeburt, ferner mit der Lehre von den Höllen und Himmeln,<br />
in denen die abgeschiedenen <strong>Seele</strong>n sich aufhalten, und endlich mit der Ahnenverehrung,<br />
die doch augenscheinlich ein Weiterleben nach dem Tode voraussetzen.<br />
Aber das scheint nur dem Außenstehenden so. <strong>Die</strong>se Anschauungen gehen zwar<br />
höchstwahrscheinlich auf verschiedene Ursprünge zurück: die Jenseitslehre auf westasiatische,<br />
die Karmalehre auf indische und der Ahnenkult auf konfuzianische; aber das<br />
Leben geht über solche Widersprüche hinweg und vereinigt mit Leichtigkeit auch noch<br />
stärkere Widersprüche.<br />
Menschsein ist für die chinesische Anschauung nur eine Daseinsform unter vielen. Der<br />
Mensch ist ebenso wie aus verschiedenen körperlichen, so auch aus verschiedenen<br />
seelischen Schichten zusammengesetzt. Werden diese verschiedenen Schichten beim<br />
Tode durch eine starke Kraft zusammengehalten, so dauert die Persönlichkeit auf einer<br />
höheren, weil feiner stofflichen Daseinsebene weiter. Sie wird zum Genius (Hsiän).<br />
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