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Die Seele Chinas - Chinaseiten

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kam ein Europäer einst ins Teehaus. Der konnte Chinesisch und redete mit ihr. Erst<br />

hatte sie namenlose Angst; denn sie hatte gehört, daß die Fremden Kinder fressen, und<br />

so wußte sie nicht, was alles Entsetzliches geschehen werde. Aber die Tante lachte sie<br />

aus: »<strong>Die</strong> Fremden sind auch Menschen gerade so wie wir, wozu Angst vor ihnen<br />

haben?« Allmählich merkte sie auch, daß der Fremde es gut mit ihr meinte. Er verlangte<br />

nichts Schlechtes von ihr. Manchmal brachte er ihr kleine Geschenke mit, oft erzählte er<br />

seltsame fremde Märchen. Sie mußte ihm auch Märchen erzählen. Da erzählte sie ihm<br />

alle Märchen, die sie von ihrer Kindheit her wußte, und als ihr Vorrat zu Ende war, ließ<br />

sie sich von der Tante Märchen sagen, die sie dann abends ihrem Freunde wieder<br />

erzählte. Auch ihre neugelernten Lieder sang sie ihm vor. Er erkundigte sich nach ihrem<br />

Lesen und Schreiben, und ihm zuliebe lernte sie auch ein Gedicht auswendig und sagte<br />

es ihm als Überraschung auf, als er wiederkam. Allmählich gewöhnte sie sich an ihn wie<br />

an einen guten Freund. Sie hat ihm zuliebe auch Nähen gelernt. Auf der Straße liefen im<br />

Winter so viele nackte Bettelkinder herum, ihr Freund kaufte deshalb schon lange vorher<br />

Tuch und Watte, und sie nähte tagsüber, wenn sie nichts zu tun hatte. Als der Winter<br />

kam, waren zwölf Anzüge fertig, und sie freute sich, daß die armen Kinder auf der<br />

Straße warme Kleider zum Anziehen von ihr bekommen sollten. Da sie nun schon<br />

nähen konnte, so nähte sie auch ihrem Freund ein Paar Hausschuhe, hübsch ordentlich,<br />

mit gestickten Mustern. <strong>Die</strong> Geschenke, die sie bekam, erwiderte sie immer durch<br />

irgendeine kleine Aufmerksamkeit, denn sie wollte nicht undankbar erscheinen. Der<br />

Freund half ihr auch manchmal aus der Not. Wenn der Geburtstag der Hausmutter war<br />

oder ein Festtag, an dem die Angestellten des Teehauses ein Trinkgeld wollten, lud er<br />

wohl Freunde ein, so daß ein richtiges kleines Fest in ihrem Zimmer gefeiert wurde, das<br />

ihr Ansehen gab vor den anderen Menschen. Denn es ist sehr wichtig, daß ein Mädchen<br />

an solchen Tagen Gäste hat, sonst wird sie schlecht behandelt, und ihr schönes Zimmer<br />

wird ihr genommen, und sie wird in einen ganz geringen Raum verwiesen. Manchmal<br />

hörte man draußen vor den Vorhängen leidenschaftliches bitteres Weinen eines<br />

Mädchens, das einsam war und vergeblich auf einen Gast wartete. Wenn keiner kam,<br />

wurde sie geschlagen und beschimpft, und alles war fürchterlich. Der kleinen Siu Ying<br />

ging es nicht schlecht, solange ihr Freund sie besuchte. Sie machte auch Gegenbesuche.<br />

Sie wollte sehen, wie es in einem europäischen Haus aussah. <strong>Die</strong> Tante nahm<br />

sie zum Schutz mit, da sie nicht wagte, allein in ein fremdes Haus zu gehen. Sie brachte<br />

ein paar Süßigkeiten zum Geschenk mit und war ziemlich ängstlich, denn alles war so<br />

groß und schön und seltsam in solch einer fremden Wohnung.<br />

Im Sommer verreiste der Freund. Das war sehr traurig, denn nun kam sie bald in Geldnot.<br />

Ihre Schulden häuften sich immer mehr, und sie weinte oft Nächte lang, weil sie<br />

nicht wußte, wie sie alles abbezahlen sollte. Sie hätte die Möglichkeit gehabt zu entfliehen,<br />

und sich in einem Asyl zu melden, wo solche Mädchen Zuflucht finden und aus den<br />

Krallen ihrer Peiniger befreit werden. Aber sie hatte nicht den Mut dazu. Denn die Tante<br />

hatte ihr immer schon erzählt, daß der Mensch alle Schulden abbezahlen müsse, die er<br />

gemacht. Wenn er es nicht tue, so müsse er als Kuh oder Hund wieder auf die Welt<br />

kommen und seinem auch wiedergeborenen Gläubiger so lange dienen, bis auch der<br />

letzte Heller abgetragen sei. Deshalb hatte sie auch abgelehnt, als ihr Freund sie aus<br />

dem Teehaus retten wollte und versprach, sie in einer Mädchenschule unterzubringen,<br />

damit sie etwas Rechtes lernen und ein anständiges Leben beginnen könne. Sie hatte<br />

sich erst gefreut; denn keines dieser Mädchen würde sich auch nur einen Augenblick<br />

besinnen, wenn ihm ein Weg geöffnet würde, der zum Leben emporführt. Sie hatte sich<br />

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