Die Seele Chinas - Chinaseiten
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nis umwittert ihn, große, weite Höfe dehnen sich zwischen mächtigen Hallen, die von<br />
einer zinnengekrönten Mauer umgeben sind, deren mehrstöckige Eckpavillons an die<br />
verbotene Stadt in Peking erinnern. Viele Denkmale aus uralter Zeit stehen als verwitternde<br />
Trümmer umher. Kaiser, die hier geweilt, um dem heiligen Berg ihre Opfer zu<br />
bringen, haben mächtige Tafeln errichten lassen, auf denen lange Inschriften eingegraben<br />
sind. Auf einem Stein ist das Bild einer uralten Zypresse eingeschnitten, das Kaiser<br />
Kienlung persönlich gemalt hat, auf einem anderen seltsam geformte Zauberzeichen,<br />
die zur Abwehr dämonischer Einflüsse dienen. In den Tempelhallen sind an den<br />
Wänden hinter den Götterbildern uralte Freskogemälde, die freilich immer von Zeit zu<br />
Zeit wieder erneuert werden. In verborgenen inneren Höfen, in denen blühende Büsche<br />
Farben und Schatten spenden, wohnt der Abt. Er hat Weihgeschenke aus alten Zeiten<br />
in seiner Wohnung aufgehäuft; am merkwürdigsten ist eine alte Nephritplatte, die am<br />
einen Ende kühl, am anderen Ende warm ist. Der Unterschied läßt sich ganz deutlich<br />
fühlen. Auch Amulette und kräftige Zauber hat er in Verwahrung.<br />
Heute ist alles in unaufhaltsamem Verfall begriffen. <strong>Die</strong> Mauern verwittern, die Dächer<br />
bröckeln ab, und manche Gebäude und Baumgerippe ragen als Ruinen auf. <strong>Die</strong> Tore<br />
des Tempels sind das Jahr über geschlossen. Nur zur Zeit der großen Wallfahrt im<br />
Frühling werden sie aufgetan. Da strömen die Pilger herbei und opfern ihre Gaben. Ein<br />
buntes Gewühl drängt sich über die weiten Plätze. Ein Jahrmarkt, auf dem<br />
Papierabklatsche der Steinskulpturen und allerlei Erinnerungen an die heilige Stätte<br />
neben den sonstigen Jahrmarktsdingen feilgeboten werden, belebt die Szene.<br />
Wahrsager haben ihre Tische aufgestellt, an denen sie sitzen wie Spinnen im Netz. Bald<br />
sehen sie den Vorübergehenden an, wer Zweifel oder Bedenken hat. Sie winken ihn<br />
geheimnisvoll heran »Der Gott hat einen Rat für dich.« Sie manipulieren ihre Zahlen und<br />
Zeichen, und in den meisten Fällen kommt irgend etwas heraus, das in Beziehung zu<br />
dem Leben des Fragenden steht, und aus dem er irgend etwas für sich entnehmen<br />
kann. <strong>Die</strong>se Wahrsager finden sich in ganz China. Nicht alle sind gleich mächtig. Aber<br />
es gibt einige, die tatsächlich mediale Begabung zu haben scheinen. In Japan gibt es z.<br />
B. einen, der im Jahre 1915 einwandfrei, im wesentlichen richtig, den Ausgang des<br />
Weltkrieges vorausgesagt hat bis auf die Entthronung des Deutschen Kaisers hinaus, an<br />
die damals kein Mensch im Ernst glaubte. Am berühmtesten in China sind die<br />
Wahrsager am Heiligtum des taoistischen Magiers Lü Tung Pin in Wutsch'ang in der<br />
Nähe des Turms der gelben Kraniche, die zum Teil in wahrhaft erschreckender Weise<br />
die Zukunft treffen.<br />
Auf dem Weg zum Berg sind viele Stationen, die manches Wunderbare zeigen. Ein Heiligtum<br />
in der Nähe der Stadt enthält in einem geheimen Höfchen einen Schrein, in dem<br />
die sterblichen Überreste eines Taoisten sind, der die Unsterblichkeit erlangt hat. So<br />
stark war die Kraft seiner inneren Konzentration, daß er auch sein Körperliches vor der<br />
Verwesung gerettet hat. Lange saß er da, ohne Nahrung zu sich zu nehmen. Er sprach<br />
nicht mehr und kümmerte sich nicht mehr um den Lauf der Welt, nur lauschend auf die<br />
Erlebnisse des inneren Lichtes. So blieb er sitzen und sitzt noch immer da, zur Mumie<br />
vertrocknet, aber unverwest. Man hat sein Gesicht später vergoldet. Aber trotz der Vergoldung<br />
sieht man noch immer den Zug tiefer Versunkenheit. Der Körper ist ganz klein<br />
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