Die Seele Chinas - Chinaseiten
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gefangener Tiger. Man sah es ihm an, daß er schonungslos die Soldaten töten würde,<br />
wenn er könnte, ebenso wie er nun schonungslos der Verurteilung entgegen ging. -<br />
Das war der letzte Eindruck aus jenen Grenzgebieten. Von Kalgan aus wendet sich die<br />
Bahn nach Süden und Osten, und bald kommt man dem Gebirge wieder näher, wo der<br />
innere Strang der großen Mauer die Bahn kreuzt. Wollte man den Eindruck beschreiben,<br />
den der Riesenbau der großen Mauer, der sich den Kamm des Gebirges entlangzieht<br />
und am Horizont in der Ferne verliert, macht, so würden sich am ehesten die Grenzwälle<br />
des alten Römerreiches gegen die nördlichen Barbarenländer als Gegenstück ergeben.<br />
Es sind dieselben systematisch angelegten und mit überlegener Kunst durchgeführten<br />
Sicherungen des »Erdkreises« gegen das Wilde, Ungestaltete, das in den<br />
Völkermassen von Jenseits droht; dabei ergibt sich dann freilich als weitere Parallele<br />
das Endresultat, daß alle diese künstlichen Vorkehrungen auf die Dauer nichts<br />
fruchteten gegen den Anprall der Naturgewalt, die in jenen Völkern tätig war. Ebenso<br />
wie die Germanen schließlich doch das Römerreich an sich rissen, sich als die<br />
herrschende Schicht haltend, aber als Sieger dennoch der vorgeschrittenen Kultur<br />
unterliegend, haben auch wiederholt die Mongolen und andere Stämme die große<br />
Mauer durchbrochen, auch sie aber wurden eingegliedert in das große chinesische<br />
Kultursystem, das mehr als irgendein anderes es verstanden hat, die heterogensten<br />
Völkerstämme zu dem einheitlichen Ganzen zusammenzuschmelzen, als welches das<br />
heutige China vor uns steht.<br />
Ein wesentlicher Unterschied zwischen Rom und China bleibt aber dennoch bestehen.<br />
Der Keim des römischen Weltreichs war schließlich doch die Stadt; das war der Grund,<br />
warum trotz der Heranziehung immer weiterer Kreise mit dem Hervortreten der Überkultur<br />
das römische Reich an innerer Blutleere starb und nur die leere Form als Erbe auf<br />
die Zukunft kam. Der Kern der chinesischen Macht aber ist die homogene Masse der<br />
breiten, bäuerlichen Bevölkerung. Hier sind die starken Wurzeln ihrer Kraft, und aus<br />
diesem Nährboden heraus kommt immer neuer, gesunder Nachwuchs in die<br />
herrschenden Klassen, wenn je einmal dort oben Überzivilisation die Gesellschaft und<br />
mit ihr den Staat durchseucht. Darum blieb China durch die Jahrtausende hindurch so<br />
lebenskräftig und überdauerte auch den Wechsel der herrschenden Geschlechter.<br />
8.<br />
Peking, 7. September.<br />
Ein Bild ganz anderer Art von vergangener Pracht und Herrlichkeit der letzten nationalchinesischen<br />
Dynastie, die im Jahre 1644 gestürzt wurde, bot sich uns, als wir von Nankou<br />
aus, wo wir die Nacht geblieben, einen Ritt nach den Gräbern der alten Kaiser der<br />
Mingdynastie machten. Der Weg ist ziemlich weit, so ging es denn in aller Frühe schon<br />
hinaus. Um vier Uhr wurden wir geweckt. Draußen klirrten die Ketten der stampfenden<br />
Esel. Ungewisse Lichter gingen hin und her, und die Luft war kalt und scharf, als wir auf<br />
unseren Eseln in die Nacht hineinritten. <strong>Die</strong> Sterne glühten am Himmel, an dem<br />
schwarze Wolkenstreifen hingen. Sternschnuppen liefen hinter den dunkel<br />
aufsteigenden Bergmassen hin und her. <strong>Die</strong> Tiere suchten mit sicherem Tritt, weit<br />
besser als wir sie hätten leiten können, ihren Weg im Finstern. Sie kletterten auf<br />
gewundenen Pfaden durch das überall umhergestreute Steingeröll. Über Flüsse und<br />
steile Berghänge ging es hinan. Dann kamen wir auf die Hochebene über schwarze,<br />
schollige Acker, durch schlafende Dörfer, durch den Tau der Nacht, der in den Bäumen<br />
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