Die Seele Chinas - Chinaseiten
Die Seele Chinas - Chinaseiten
Die Seele Chinas - Chinaseiten
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
sein. Entweder werde sie in einer Schule ausgebildet werden, oder werde sie sich als<br />
Künstlerin einen Namen machen. Siu Ying war ein schüchternes, sanftes Kind und<br />
spielte auf der Straße wie die anderen Kinder. Ein kleiner Bruder kam zur Welt; da<br />
wurde sie mit der Sorge um das kleine schreiende Ding betraut. Nun gab es ernste<br />
Stunden. Denn der Kleine war ein Tyrann, und die Schwester hatte genug zu tun, ihn zu<br />
hüten und ihn immer wieder zufriedenzustellen. Da starb der Vater plötzlich, als sie eben<br />
vom Kind zur Jungfrau heranzureifen begann. Es stellte sich heraus, daß er nicht nur<br />
nichts hinterließ, sondern sogar beträchtliche Schulden auf seinem Geschäft standen.<br />
Einst kam eine Bekannte zu Besuch. Sie sah gut und freundlich aus. Sie redete mit der<br />
Mutter über die kleine Siu Ying. Solche Mädchen hätten schon oft das Glück der ganzen<br />
Familie gemacht. Sie versprach, die Kleine als Künstlerin ausbilden zu lassen und mit<br />
nach der Hauptstadt zu nehmen. Sie werde da viel Geld verdienen, so daß sie die<br />
ganze Familie ernähren könne und mit der Zeit auch sicher noch imstande sein werde,<br />
die Schulden des verstorbenen Vaters zu tilgen und so sein Andenken vor der Nachwelt<br />
zu reinigen. <strong>Die</strong> gute Frau war sogar bereit, sofort ein paar hundert Dollar zu zahlen. Nur<br />
der Form wegen wurde ein Vertrag aufgesetzt: das Mädchen wurde der guten Frau zu<br />
eigen übergeben als Pfand für das geliehene Geld, das mit vier Prozent pro Monat zu<br />
verzinsen sei. Sobald sie Kapital und Zinsen zurückbezahlt habe, solle sie frei sein.<br />
Siu Ying war selig, als sie von der Reise und all den goldenen Dingen hörte. Schöne<br />
seidene Kleider wurden für sie gekauft, in denen sie im Spiegel sehr niedlich aussah.<br />
Bald ging die Reise übers Meer nach Peking. <strong>Die</strong> Mutter schenkte ihr zum Abschied<br />
noch einen Ring mit grünen Chrysopras. Ihren kleinen Bruder nahm sie mit, um die<br />
Sorge für seine Erziehung der armen Mutter abzunehmen. Eine andere Tante, die auch<br />
ein wenig Geld vorgestreckt hatte, ging ebenfalls mit. <strong>Die</strong> erste Tante hatte noch ein<br />
ganz kleines Töchterchen. So war denn eine ganze Familie beisammen, als sie von<br />
ihrer Mutter voll froher Hoffnung Abschied nahm.<br />
Sie hatte von Glück und Jugend Abschied genommen. In Peking wurde nun ein kleines<br />
dunkles Zimmer gemietet und außerdem in einem Teehaus erster Klasse ein Platz<br />
belegt. <strong>Die</strong> Ausstattung des Zimmers kostete wieder einige hundert Dollar. Ein Lehrer<br />
wurde gemietet, der der kleinen Siu Ying die Anfangsgründe des Singens beibrachte.<br />
Sie mußte Lieder in großer Zahl auswendig lernen und zu den schrillen Tönen der Geige<br />
des Lehrers mechanisch hersingen. Ein anderer Lehrer erteilte ihr und ihrem Bruder<br />
Unterricht im Lesen und Schreiben. Aber dieses Lernen war alles mühsame und harte<br />
Arbeit. Es war kein Gesang wie der Gesang des Vogels, frei und froh. Es war ein<br />
gequältes Nachsingen vorgespielter Noten, bei dem das Herz nicht dabei war. Auch das<br />
Schreiben war für die ungeübten Fingerchen recht schwer und ungewohnt.<br />
Das Schönste waren noch die Kleider, die waren nach dem neuesten Schnitt, und sie<br />
freute sich, hübsch zu sein, wenn sie ihr Gesichtchen vor dem Spiegel schminkte. Nun<br />
sollte sie Gäste unterhalten. Das war etwas Entsetzliches. Ein paarmal hatten einige<br />
übermütige junge Männer die Kleine zur Gesellschafterin gewählt. Aber sie sprachen so<br />
seltsame Dinge und sahen sie so fremd und furchtbar an, auch wenn sie lachten. Sie<br />
wußte nicht, was die Männer von ihr wollten. Sie bekam Angst und war ganz verschüchtert.<br />
Bei Nacht aber hatte sie Heimweh und weinte bitterlich.<br />
Sie hatte es sehr schwer. Von dem geringen Verdienst, mit dem sie infolge ihrer<br />
Schüchternheit sich begnügen mußte, sollte sie die ganze Gesellschaft, die sich an sie<br />
gehängt hatte, ernähren und sollte noch dazu Zinsen zahlen für die Vorschüsse. Sie<br />
bekam nicht soviel Geld zusammen, und statt weniger wurden die Schulden immer<br />
mehr. Eine Zeitlang kam ein Lichtblick in ihr Leben. Mit einigen chinesischen Freunden<br />
217