Die Seele Chinas - Chinaseiten
Die Seele Chinas - Chinaseiten
Die Seele Chinas - Chinaseiten
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
wurde der Herbergsraum festlich für mich hergerichtet. Der Jahrhunderte alte Staub des<br />
Lehmfußbodens wurde durch heftiges Kehren mit dem kurzen Handbesen durcheinandergewirbelt,<br />
die Stühle wurden mit roten Polstern versehen, und an den Türen wurden<br />
rote Seidenstreifen und Vorhänge befestigt.<br />
Ich schickte meine chinesische Visitenkarte * ins Yamen (Regierungsgebäude), um meinen<br />
Besuch beim Ortsbeamten anmelden zu lassen. Es war dunkel geworden, ehe ich<br />
mich auf den Weg machen konnte. Ich wurde in einer Sänfte durch die dämmerigen<br />
Straßen getragen. Voran gingen Amtsdiener mit Papierlaternen im Geschwindschritt, um<br />
den Weg frei zu machen. Ehrfurchtsvoll wich die Menge, die sich durch die engen Gassen<br />
schob, zur Seite. Es ging durch das hohe Tonnengewölbe des Stadttores, in dem<br />
die Schritte der Träger dröhnten. <strong>Die</strong> riesigen, eisenbeschlagenen Torflügel waren noch<br />
offen. Erst nach Einbruch der Nacht wird durch einen hellen Hornstoß und dumpfes<br />
Trommeln das Zeichen gegeben, worauf die Tore sich knarrend schließen. <strong>Die</strong>se Stadttore<br />
mit ihrem trotzigen Aussehen, oft überragt von kleinen Tempelchen, haben meist<br />
eine lange Geschichte von Krieg und Frieden erlebt, und unheimlich sind sie umwittert<br />
von den Ereignissen. In ihrer Tiefe hängt etwa ein vergittertes Kästchen, in dem ein<br />
Paar Schuhe stehen. Es sind die Schuhe eines gerechten und beliebten Beamten, die<br />
ihm beim Abschied von der dankbaren Bevölkerung als Andenken abgenommen<br />
wurden, während ihm ein Paar neue überreicht wurden, die ihm den Aufstieg ebnen<br />
helfen sollten. Aber man konnte auch andere Dinge sehen, etwa den Kopf eines<br />
berüchtigten Räubers, der in einem kleinen Käfig hier zur Abschreckung oft wochenlang<br />
aufgehängt wurde. In Wehsiän hing übrigens damals kein Kopf im Tor, und ruhig ging es<br />
durch die gepflasterten Straßen weiter, vorbei an matt erleuchteten Läden und<br />
Werkstätten, bis die Träger endlich durch das hohe Torgebäude ins Yamen einbogen.<br />
Der Beamte empfing mich in einem kleinen Privatraum und war sehr freundlich, ordnete<br />
auch alles für die Weiterreise, die für den nächsten Morgen geplant war, an.<br />
Am nächsten Morgen in der grauen Frühe kam eine Reisesänfte mit zwei Abteilungen<br />
von Trägern für mich und ein Reisewagen für die Schüler und das Gepäck. <strong>Die</strong> chinesischen<br />
Reisewagen sind zweirädrige Vehikel ohne Federn mit einem tonnenförmigen<br />
Aufbau, der in der Regel mit blauem Tuch bespannt ist. Der Wagen ruht auf zwei Deichseln,<br />
die direkt dem Pferd angeschirrt werden. In der Ebene genügt ein Pferd. Bei<br />
schwierigen Wegen wird ein zweites davor gespannt. <strong>Die</strong> Wagen sind noch ganz wie sie<br />
vor Jahrtausenden waren, sehr stabil gebaut, so daß sie auch auf den schlechtesten<br />
Wegen, wo sie oft gefährlich schief stehen, sich doch immer wieder auf den beiden<br />
Rädern aufrichten und ein Umkippen zu den Seltenheiten gehört. <strong>Die</strong> Chinesen stopfen<br />
sich den Wagen mit Gepäck und Decken so voll, daß sie selbst zwischen den weichen<br />
Gegenständen eingeklemmt sind und so das Schütteln des federlosen Wagengestells<br />
mit Ruhe ertragen können. Ich habe später auch die Vorzüge eines chinesischen Reise-<br />
Ortsbeamten. Wenn auch dies Recht im Fall von Fremden nicht gesetzlich festgelegt war, so taten die<br />
Ortsbeamten doch aus Höflichkeit alles, um die fremden Gäste zu befriedigen.<br />
* <strong>Die</strong> alten chinesischen Visitenkarten bestanden aus rotem Papier, auf dem meist in drei Zeichen die<br />
lautliche Umschreibung des Familiennamens, der voransteht, und des Rufnamens, der nachsteht,<br />
verzeichnet war. Mein chinesischer Name z. B. ist We Li Hsiän, wobei We als Familienname, Li Hsiän als<br />
Rufname gilt. Da jedoch iede Silbe im Chinesischen auch eine Bedeutung hat, ist es besonders wichtig,<br />
daß man bei der Wahl der chinesischen Zeichen gut beraten wird. Sonst können Dinge vorkommen wie<br />
die, daß eine Dame die Zeichen D Yu Ya mit der Bedeutung »<strong>Die</strong> Gans, die in Asien reist« oder ein Mann<br />
die Zeichen Pu tschi tau mit der Bedeutung »ich weiß nicht« auf die Karte bekommt, was natürlich immer<br />
etwas erheiternd wirkt. Manche Dolmetscher waren berühmt wegen der boshaften Wahl ihrer<br />
Namentranskriptionen.<br />
61