Die Seele Chinas - Chinaseiten
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Sechstes Kapitel<br />
Das Neue China<br />
Wenn man das neue China, das im Verlauf der letzten Jahrzehnte sich gebildet hat,<br />
wirklich verstehen will, so genügt es nicht, die nach außen hervortretenden politischen<br />
Verhältnisse und die zum Teil recht verwickelten Kämpfe der Militärführer zu verfolgen.<br />
In China spielt sich zur Zeit eine doppelte Geschichte ab: die Geschichte des von<br />
Europa importierten, in gegenseitigen Kämpfen sich erschöpfenden Militarismus und die<br />
Geschichte der im stillen heranwachsenden und immer mehr Selbstbewußtsein bekommenden<br />
chinesischen Kultur. <strong>Die</strong> Führer dieser geistigen Bewegung Jung-<strong>Chinas</strong> haben<br />
sie wohl gelegentlich mit der europäischen Renaissancezeit verglichen. Jedenfalls ist sie<br />
auch eine Neugeburt auf geistigem Gebiet.<br />
Man hatte sich in Europa eine Zeitlang daran gewöhnt, in China einen Riesenkomplex<br />
zu sehen, der in Jahrtausende langer Erstarrung unbeweglich daliege, von allem<br />
Fortschritt der Welt durch eine »chinesische Mauer« getrennt. <strong>Die</strong>ses kurzsichtige Urteil<br />
rührt von der Unkenntnis der innerchinesischen Verhältnisse her und von der<br />
Oberflächlichkeit der Betrachtung, auf die eine fremde Massenerscheinung immer einen<br />
gleichförmigen Eindruck macht, weil man die unterscheidenden Merkmale sowohl der<br />
einzelnen Menschen als auch ganzer Geschichtsepochen später entdeckt als die<br />
gemeinsamen Züge.<br />
Dennoch ist die chinesische Kultur von jeher weit entfernt von monotoner Gleichartigkeit<br />
gewesen. Auf die klassische Zeit der Tschoukultur folgten immer wieder neue Epochen<br />
mit neuen selbständigen Kulturwerten, und noch die letzten Jahrhunderte haben eine<br />
durchaus eigenartige Kulturausprägung im Aufkommen einer streng wissenschaftlichen,<br />
kritischen Philologie gehabt. Man wußte nur nichts davon in Europa, weil man sich nicht<br />
die Mühe nahm, von den alten festgetretenen Urteilsbahnen abzugehen und das neuere<br />
chinesische Geistesleben selbständig zu durchforschen.<br />
Zu den Vertretern der älteren wissenschaftlichen Generation gehört Tschang T'ai Yän,<br />
der nicht nur die klassische Literatur vollkommen beherrscht, sondern auch auf dem<br />
Gebiete des Mahayana-Buddhismus ein bedeutender Gelehrter ist, der aber, da er keine<br />
europäische Sprache spricht und wenig Verkehr mit Ausländern pflegt, im Westen so<br />
gut wie unbekannt ist. Er vertritt die mittelchinesische wissenschaftliche Tradition. Er gilt<br />
in China heute als der unbestrittene Führer auf dem Gebiet der literarischen<br />
Wissenschaft. Seine strenge, demokratische Gesinnung hat ihn auch der<br />
aufkommenden Jugend verehrungswürdig gemacht. Dennoch hat er auf das praktische<br />
Leben weniger Einfluß als auf das wissenschaftliche, wodurch er in eine gewisse<br />
aristokratische Vereinsamung gekommen ist.<br />
In Südchina sind von Gelehrten, die im letzten Jahrhundert auftraten und bis in die<br />
Gegenwart hinein tätig sind, zu nennen die beiden als Reformer schon erwähnten Männer<br />
K'ang Yu We und Liang K'i Tsch'ao. Der ältere von ihnen, K'ang Yu We, ist heute ein<br />
freundlicher Greis, der da und dort in China auftritt und wieder verschwindet. Man redet<br />
lächelnd von ihm als von dem »neuen Heiligen«, womit man auf sein Verhältnis zu Konfuzius<br />
anspielt. Aber kein Mensch ahnt, welcher Vulkan hinter dem freundlich lächelnden<br />
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