Seite 4 - Alt-breitscheid.de
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Jauchetümpel, Stallungen und Kotlachen bewegte sich die seltsame Prozession vorwärts,<br />
angetrieben von eigens für diesen Zwecke einstudierten Weisen <strong>de</strong>r Musik, die unmittelbar<br />
hinter <strong>de</strong>m Vortänzer folgte. Kein Haus blieb von <strong>de</strong>r Fahrt verschont; über Mauern, Zäune<br />
und Hecken ging <strong>de</strong>r tolle Wirbel unter <strong>de</strong>m brausen<strong>de</strong>n Juhgeschrei <strong>de</strong>r Zuschauer hinweg.<br />
Zu <strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>ren Aufgaben <strong>de</strong>s Vortänzers gehörte es, <strong>de</strong>n gefüllten „Pullschobber“<br />
(Pfuhlschöpfer) immer wie<strong>de</strong>r über die Neugierigen, die die Fahrt flankierten, auszuschütten.<br />
Je tiefer die nimmermü<strong>de</strong>n Beine in <strong>de</strong>n Morast einsanken, umso ausgelassener wur<strong>de</strong> die<br />
Stimmung. Erst bei Einbruch <strong>de</strong>r Dunkelheit bewegte sich die Spitze <strong>de</strong>s über und über mit<br />
Unrat be<strong>de</strong>ckten Zuges an <strong>de</strong>n Ausgangspunkt zurück. Ein drittes Hornsignal kün<strong>de</strong>te das<br />
En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Fahrt, und johlend schob <strong>de</strong>r ganze Spuk nach allen <strong>Seite</strong>n <strong>de</strong>n heimischen Penaten<br />
zu, wo Kübel und Bottiche bereitstan<strong>de</strong>n zum erfrischen<strong>de</strong>n Ba<strong>de</strong>. Gegen acht Uhr begann<br />
nun endlich <strong>de</strong>r hergebrachte Kirmestag beim Kirmeswirt, und im gleichen Maße, wie nun<br />
endlich das Feiertagsgewand zu seinem Rechte kam, lag noch lange <strong>de</strong>r Nachhall über die<br />
gelungene Mistfahrt über <strong>de</strong>m ausgelassenen Kirmesvolk. – Um die ursächlichen<br />
Zusammenhänge <strong>de</strong>r Sinner Mistfahrt zu ergrun<strong>de</strong>n, wird ein Blick in die Zeit <strong>de</strong>r<br />
Religionskriege, als (Jean) Johann Bockold aus Ley<strong>de</strong>n seine Büßerzüge grün<strong>de</strong>te, wohl am<br />
ehesten <strong>de</strong>n Schleier über dieser wun<strong>de</strong>rlichen Sitte lüften. Diese Büßer zogen in wahllosen<br />
Haufen durch <strong>de</strong>utsches Land unter Geißelungen und allen nur er<strong>de</strong>nkbaren Kasteiungen. Sie<br />
schlugen sich mit Ketten, zerrissen ihre Klei<strong>de</strong>r und beschmierten Gesicht und Körper mit<br />
Blut, Kot und Lehm, um auf diese Weise ihr elends, „Sün<strong>de</strong>nleben“ für das Fegefeuer<br />
vorzubereiten. Es ist anzunehmen, daß <strong>de</strong>r urwüchsige Sinner in seiner noch heute<br />
anerkannten Spottsucht diese Büßerzüge in seiner „Mistfahrt“ ironisierte (verhöhnen und<br />
verspotten wollte), führten doch diese Her<strong>de</strong>n ein alles an<strong>de</strong>re als gottgefälliges Leben. Die<br />
Annahme, daß ein solcher loser Haufe in unserem Gebiet sein Wesen getrieben hat, dürfte<br />
durch die „Sinner Mistfahrt“ wohl begrün<strong>de</strong>t sein. – Wann die letzte Fahrt in Sinn<br />
stattgefun<strong>de</strong>n hat, ist nicht mehr zu ergrün<strong>de</strong>n. Das Erwachen aus mittelalterlicher Dunkelheit<br />
hat auch hier dazu geführt, daß sich das gesun<strong>de</strong> Volksempfin<strong>de</strong>n Dingen zuwandte, die über<br />
<strong>de</strong>m Schmutz <strong>de</strong>r Straße und in weniger übelm Geruche stehen.<br />
(Der Sprachgebrauch in Breitscheid kennt auch die „Sinner Mistfahrt“, aber in ganz an<strong>de</strong>rer<br />
Be<strong>de</strong>utung. Siehe darüber <strong>de</strong>n nächsten Beitrag!)<br />
Auch eine „Sinner Mistfahrt“<br />
Im Jahre 1880, als Breitscheid seine neue Schule baute (die „in <strong>de</strong>r Lück“), lieferte <strong>de</strong>r hiesige<br />
Fuhrmann J.H. Petry ((Haus Nr. 31, gestorben 1894) die Kalksteine dazu an. Die Steine, die<br />
dabei übrig waren, fuhr er auf die Sinner Hütte, die er schon seit Jahren mit Kalksteinen<br />
versorgte. Daneben betrieb <strong>de</strong>r Mann auch seine kleine Landwirtschaft. Nun wollte er eines<br />
Tages auch einen Wagen voll Mist in das Feld fahren (die sogenannte „Höll“), das an <strong>de</strong>n<br />
Me<strong>de</strong>nbacher Weg grenzte, <strong>de</strong>r nach Herborn führte. Als er nun in <strong>de</strong>n Feldweg nach rechts<br />
hätte einbiegen müssen, fuhr er in „Ungedanken“ die gewohnte Hauptstraße weiter. Erst im<br />
Tale wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Irrtum ent<strong>de</strong>ckt, als man in Me<strong>de</strong>nbach o<strong>de</strong>r Uckersdorf auf die ungewohnte<br />
Ladung aufmerksam wur<strong>de</strong>. Was nun tun? Der Fuhrmann hielt es fürs beste, <strong>de</strong>n Mist wie<strong>de</strong>r<br />
Heim zu fahren. Er nahm aber nun <strong>de</strong>n Weg von Uckersdorf über Amdorf und Schönbach<br />
zurück. Von Schönbach aus ist <strong>de</strong>r Weg beson<strong>de</strong>rs steil, sodaß wohl vorsperren nötig<br />
gewor<strong>de</strong>n ist. Doch endlich sieht <strong>de</strong>r Hof in Breitscheid das Gefährt in <strong>de</strong>rselben Verfassung<br />
wie<strong>de</strong>r, wie es ihn vor Stun<strong>de</strong>n verlassen hat. Eine weite, beschwerliche Fahrt war nutzlos<br />
unternommen wor<strong>de</strong>n, und <strong>de</strong>r Fuhrmann brauchte, <strong>de</strong>m Sprichwort gemäß, nicht für <strong>de</strong>n<br />
Spott zu sorgen. – Seit<strong>de</strong>m bezeichnet man in Breitscheid und an<strong>de</strong>ren Orten <strong>de</strong>r Umgebung<br />
eine Fahrt, die „weit hennerim“ geht und allerlei Wi<strong>de</strong>rwärtigkeiten mit sich bringt, mit <strong>de</strong>m<br />
Ausdruck „Sinner Mistfahrt“.