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17. Internationales Dokumentarfilmfestival München - DOK.fest ...

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Paradise Lost – Einführung<br />

Vom Verlust der Unschuld war immer wieder die Rede, in den Tagen<br />

und Wochen nach dem 11. September. »In New York verlor die Welt<br />

ihr Urvertrauen«, titelte das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung<br />

zwei Tage nach dem Anschlag. Paradise Lost.<br />

Denkt man auch nur an die letzten 50 Jahre amerikanischer Geschichte,<br />

fällt auf, wie oft der Verlust der amerikanischen Unschuld<br />

angekündigt – und dann doch wieder verschoben wurde. Immer<br />

noch glauben viele Amerikaner, im besten Land der Welt zu leben –<br />

in God’s Country, wie ein Film von Louis Malle über eine Kleinstadt<br />

im amerikanischen Mittelwesten heißt. Hier ist Amerika so, wie es<br />

sich selbst am liebsten sieht: strebsam, gesetzestreu, familienbewusst,<br />

fromm und ländlich. Als der Regisseur sechs Jahre nach den<br />

ersten Dreharbeiten zurückkehrt, kündigen sich aber auch im ehemals<br />

so selbstzufriedenen Glencoe Veränderungen an.<br />

Auf die dunkle Seite Amerikas führt unsere Reihe, in die Welt der<br />

esoterischen Heilssucher und rechtsextremen Sekten (Missing<br />

Allen), nach Altamont, als bei dem berüchtigten Konzert der Rolling<br />

Stones der Traum von Love & Peace unter den Händen der Hell’s Angels<br />

stirbt (Gimme Shelter); und in eine Kleinstadt, die mit Ritualmorden<br />

fertig werden muss – drei Kindern wurden der Bauch aufgeschlitzt<br />

und die Geschlechtsteile gehäutet. Paradise Lost haben<br />

Joe Berlinger und Bruce Sinofsky ihren Film über diesen Kriminalfall<br />

genannt, eine dunkle Odyssee, die zu den Angehörigen der<br />

Opfer und Täter, in den Gerichtssaal und ins Gefängnis, zu den mutmaßlichen<br />

Tätern, führt. Die Bürger der Stadt fordern Vergeltung,<br />

und die Polizei hatte bald Schuldige parat. Sind diese drei Teenager,<br />

denen die Kamera so oft so unangenehm nahe kommt, tatsächlich<br />

Monster? Oder sind sie Opfer eines Hasses, der Schuldige brauchte<br />

und sie unter den Armen und Unangepassten der Stadt finden<br />

wollte?<br />

Statt die Bilder der einstürzenden Twin Towers noch einmal im Kino<br />

zu zeigen – es gibt solche Filme, die den Fernsehnachrichten aber<br />

kaum etwas hinzufügen – beschäftigt sich unsere Reihe mit Amerikas<br />

innerer Sicherheit: dem Selbstverständnis vom gelobten Land,<br />

in dem Auseinandersetzungen mit dem Fremden, dem Anderen<br />

schnell zu einem Kampf gegen das Böse werden. Der Kommunistenjäger<br />

Joseph McCarthy kommt ausführlich zu Wort (Point of<br />

Order!), und in Through the Wire ist zu sehen, wie die amerikanische<br />

Justiz mit politischen Häftlingen umspringt: Isolation, Videoüberwachung<br />

und tägliche Ganzkörperdurchsuchungen haben drei in<br />

den unterirdischen Anlagen des Lexington Gefängnisses im Bun-<br />

160<br />

desstaat Kentucky inhaftierte Frauen physisch und psychisch<br />

schwer angegriffen.<br />

Warum hasst uns eigentlich die halbe Welt?, haben sich nach dem<br />

11. September viele Amerikaner gefragt. Um zu verstehen, warum<br />

Menschen diesen Staat mit Waffengewalt bekämpfen, muss man<br />

nicht einmal ins Ausland gehen. In den linksextremen terroristischen<br />

Untergrund führt Underground von Emile de Antonio, in dem<br />

fünf Mitglieder der in den siebziger Jahren berühmt-berüchtigten<br />

Weather Underground Organisation erzählen, warum sie zu Bombenlegern<br />

wurden. Auch Vietnam, das große amerikanische Trauma,<br />

ist mehrfach Thema. Daughter from Danang (im Wettbewerbsprogramm)<br />

dokumentiert den Versuch einer Versöhnung, und die<br />

Filmemacher scheinen selbst überrascht, wie tragisch dieser Versuch<br />

endet. Basic Training von Frederick Wiseman beobachtet vor<br />

dem Hintergrund des Vietnamkrieges, wie junge Männer zu Soldaten<br />

geformt werden – der Unterricht an der Zahnbürste gehört auch<br />

dazu. »Der Amerikaner Frederick Wiseman … hat seit 1967 die wohl<br />

umfassendsten und komplexest beobachtenden Filme der Dokumentarfilmgeschichte<br />

gedreht, Filme über amerikanische Institutionen,<br />

die sich fortschreitend von Film zu Film, zu einem – für manche<br />

Zuschauer niederschmetternden – Bild der USA runden«, schreibt<br />

Wilhelm Roth in seinem Buch Der Dokumentarfilm seit 1960. Eher<br />

untypisch für den Regisseur Wiseman ist die Lakonie von Basic Training.<br />

Der Film über die Ausbildung zum Töten hat etwas Holzschnittartiges:<br />

wie eine Vorlage, die immer wieder reproduziert wird.<br />

Paradise Lost – das ist auch die häusliche Gewalt, der Krieg in den<br />

Familien, von dem Domestic Violence, Wisemans jüngster Film (im<br />

Wettbewerbsprogramm), erzählt. Der Film scheint förmlich aufgeladen<br />

mit Gewalt. Und in Leben nach Microsoft beschreibt ein ehemaliger<br />

Mitarbeiter die Wochen vor dem Auslieferungstermin eines<br />

neuen Software-Programms als »Todesmärsche« für die Programmierer.<br />

Sehen die Gedenksteine auf dem Firmengelände nicht wie<br />

Grabsteine auf einem Soldatenfriedhof aus?<br />

»Krisenzeiten sind Treibhäuser des Dokumentarfilms«, hat Klaus<br />

Kreimeier einmal geschrieben. In diesem Sinne haben die Dokumentaristen<br />

die großen Katastrophen und kleineren Erschütterungen<br />

in »Gottes eigenem Land« immer wieder aufmerksam notiert.<br />

Die bewegliche Kamera des cinéma vérité blickte hinter die Kulissen,<br />

vor ihr konnte niemand so leicht fliehen. Aber hat diese Art des<br />

Dokumentar-Filmens manche Eskalation nicht auch provoziert? Der<br />

Mord in Gimme Shelter ist mehrmals, auch in Zeitlupe zu sehen. Die

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