Falstaff Magazin Deutschland 04/2021
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JOACHIM RIEDL<br />
ist Journalist,<br />
Schrift steller und<br />
Ausstellungsgestalter.<br />
Bis 2020 leitete er<br />
das Wiener Büro und<br />
die Österreich-Seiten<br />
der Wochenzeitung<br />
DIE ZEIT.<br />
Illustration: Gina Mueller<br />
blinden Wels Xaverl beibrachte, auf Pfeifsignale<br />
zu reagieren. Der US-ame rikanische<br />
Verhaltensforscher Jonathan Balcombe<br />
behauptet sogar, viele Arten in den Ozeanen<br />
kämen mit ihrer Intelligenz Primaten nahe,<br />
den nächsten Verwandten der Menschen.<br />
Diese Erkenntnisse bringen allerdings<br />
auch ein ethisches Problem mit sich, das<br />
den gewohnten Umgang mit der maritimen<br />
Bevölkerung infrage stellt. Tierschutzgesetze<br />
müssten angesichts der achtlosen Art, mit<br />
der die Meere ausgebeutet werden, auch für<br />
Fische und Krustentiere gelten. Bis sich<br />
diese Einsicht durchgesetzt hat, dürfte es<br />
indes noch dauern. Es fehlt einfach an<br />
Wissen, das veranschaulicht, wie hoch<br />
entwickelt die Meeresbewohner sind.<br />
DER KUSS DES OKTOPUS<br />
Für die Psychologin Sy Montgomery<br />
begann alles im Aquarium von Boston.<br />
Dort lernte sie einen pazifischen Riesenkraken<br />
kennen, der sie faszinierte. Kaum hatte<br />
sie ihre Hände ins Wasser getaucht, da<br />
umfasste er sie mit mehreren Armen und<br />
unzähligen Saugnäpfen: »Sein Saugen ist<br />
sanft, aber nachdrücklich, und es fühlt sich<br />
an wie der Kuss eines Unbekannten«,<br />
schwärmte sie. Es war der Ausgangspunkt<br />
einer mehrjährigen Erkundungsreise.<br />
In ihrem Bestseller »Rendezvous mit<br />
einem Oktopus« begegnet man Gestalten<br />
mit Namen wie Athena oder Octavia, auf<br />
deren acht Armen die Haut in Sekundenschnelle<br />
farbig aufflackert, so wie auf<br />
menschlichen Gesichtern die Mimik. Es<br />
sind Einzelgänger mit einer ungewöhnlichen<br />
Physis – drei Herzen schlagen in ihren<br />
Körpern, ihre Gehirne sind walnussgroß,<br />
UNTER WASSER<br />
FINDET SEIT JAHR-<br />
MILLIONEN EIN<br />
»UNABHÄNGIGES<br />
EXPERIMENT DER<br />
EVOLUTION« STATT.<br />
sie besitzen rund 300 Millionen Neuronen.<br />
Die meisten davon befinden sich allerdings<br />
nicht im Hirn, sondern an den Armen, mit<br />
denen der Oktopus zärtlich sein kann oder<br />
kräftig zupackend. Er kann blitzschnell seine<br />
Farbe wechseln und reagiert sehr sensibel<br />
auf Veränderung. Viele Leserinnen und<br />
Leser verstanden die Faszination der Autorin.<br />
Sy Montgomery erzählt, viele hätten ihr<br />
versichert, nach der Lektüre ihres Buches<br />
nie mehr Oktopus verzehrt zu haben.<br />
Der australische Krakenforscher Peter<br />
Godfrey-Smith spricht in diesem Zusammenhang<br />
von einem »unabhängigen Experiment<br />
der Evolution«. Diese habe sich nicht<br />
geradlinig von den Seetieren zu den Menschen<br />
vollzogen, sondern sei eigenständige<br />
Wege gegangen, welche die unterschiedli<br />
chen Meerestiere – man schätzt sie auf nahezu<br />
33.000 Arten – an ihr Element anpassten<br />
und perfektionierten. Das macht es auch so<br />
schwierig nachzuvollziehen, wie Leben unter<br />
Wasser funktioniert. Es folgt einfach einer<br />
anderen Logik als jenes der Säugetiere.<br />
WER IST HIER DAS MONSTER?<br />
Das gilt auch für Haie, die keineswegs die<br />
gefräßigen Monster sind, als die sie oft<br />
noch gelten. Die bedrohten Raubfische seien,<br />
sagt der deutsche Haiforscher Thomas<br />
Peschak, »viel klüger als Katzen«. Bei<br />
Experimenten mit Futterautomaten würden<br />
sie etwa viel schneller herausfinden, welche<br />
Tasten sie mit ihrer Schnauze drücken<br />
müssen, um einen Happen zu erhaschen.<br />
Einen Sonderplatz nehmen die Meeressäuger<br />
Delfine ein. Ihr ausgeprägtes<br />
Kommunikationsverhalten wird bereits seit<br />
geraumer Zeit erkundet. Manche Forscher<br />
sind überzeugt, dass es sich bei ihrem Klicken,<br />
Pfeifen und Schnattern um eine eigene<br />
Sprache handeln müsse. Die lernfähigen<br />
Tiere suchen auch die Nähe zu Menschen –<br />
und dienen zur Therapie. Im israelischen<br />
Eilat werden Delfine in einer wissenschaftlichen<br />
Station etwa auch eingesetzt, um Kontakt<br />
zu autistischen Kindern aufzunehmen.<br />
Da kann man beobachten, wie am frühen<br />
Morgen ein kleiner Junge am Strand sitzt<br />
und auf das Wasser hinausblickt. Plötzlich<br />
taucht aus den Fluten »sein« Delfin auf –<br />
immer dasselbe Tier, das sich aufrichtet und<br />
dem Buben zuschnattert. Und der streckt<br />
seine Finger Richtung Meer und tut, wozu<br />
ihn Menschen niemals bewegen können –<br />
er beginnt, seinem tierischen Besucher<br />
Kosenamen zuzurufen.<br />
<<br />
jun <strong>2021</strong><br />
falstaff<br />
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