01.06.2021 Aufrufe

Falstaff Magazin Deutschland 04/2021

  • Keine Tags gefunden...

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

JOACHIM RIEDL<br />

ist Journalist,<br />

Schrift steller und<br />

Ausstellungsgestalter.<br />

Bis 2020 leitete er<br />

das Wiener Büro und<br />

die Österreich-Seiten<br />

der Wochenzeitung<br />

DIE ZEIT.<br />

Illustration: Gina Mueller<br />

blinden Wels Xaverl beibrachte, auf Pfeifsignale<br />

zu reagieren. Der US-ame rikanische<br />

Verhaltensforscher Jonathan Balcombe<br />

behauptet sogar, viele Arten in den Ozeanen<br />

kämen mit ihrer Intelligenz Primaten nahe,<br />

den nächsten Verwandten der Menschen.<br />

Diese Erkenntnisse bringen allerdings<br />

auch ein ethisches Problem mit sich, das<br />

den gewohnten Umgang mit der maritimen<br />

Bevölkerung infrage stellt. Tierschutzgesetze<br />

müssten angesichts der achtlosen Art, mit<br />

der die Meere ausgebeutet werden, auch für<br />

Fische und Krustentiere gelten. Bis sich<br />

diese Einsicht durchgesetzt hat, dürfte es<br />

indes noch dauern. Es fehlt einfach an<br />

Wissen, das veranschaulicht, wie hoch<br />

entwickelt die Meeresbewohner sind.<br />

DER KUSS DES OKTOPUS<br />

Für die Psychologin Sy Montgomery<br />

begann alles im Aquarium von Boston.<br />

Dort lernte sie einen pazifischen Riesenkraken<br />

kennen, der sie faszinierte. Kaum hatte<br />

sie ihre Hände ins Wasser getaucht, da<br />

umfasste er sie mit mehreren Armen und<br />

unzähligen Saugnäpfen: »Sein Saugen ist<br />

sanft, aber nachdrücklich, und es fühlt sich<br />

an wie der Kuss eines Unbekannten«,<br />

schwärmte sie. Es war der Ausgangspunkt<br />

einer mehrjährigen Erkundungsreise.<br />

In ihrem Bestseller »Rendezvous mit<br />

einem Oktopus« begegnet man Gestalten<br />

mit Namen wie Athena oder Octavia, auf<br />

deren acht Armen die Haut in Sekundenschnelle<br />

farbig aufflackert, so wie auf<br />

menschlichen Gesichtern die Mimik. Es<br />

sind Einzelgänger mit einer ungewöhnlichen<br />

Physis – drei Herzen schlagen in ihren<br />

Körpern, ihre Gehirne sind walnussgroß,<br />

UNTER WASSER<br />

FINDET SEIT JAHR-<br />

MILLIONEN EIN<br />

»UNABHÄNGIGES<br />

EXPERIMENT DER<br />

EVOLUTION« STATT.<br />

sie besitzen rund 300 Millionen Neuronen.<br />

Die meisten davon befinden sich allerdings<br />

nicht im Hirn, sondern an den Armen, mit<br />

denen der Oktopus zärtlich sein kann oder<br />

kräftig zupackend. Er kann blitzschnell seine<br />

Farbe wechseln und reagiert sehr sensibel<br />

auf Veränderung. Viele Leserinnen und<br />

Leser verstanden die Faszination der Autorin.<br />

Sy Montgomery erzählt, viele hätten ihr<br />

versichert, nach der Lektüre ihres Buches<br />

nie mehr Oktopus verzehrt zu haben.<br />

Der australische Krakenforscher Peter<br />

Godfrey-Smith spricht in diesem Zusammenhang<br />

von einem »unabhängigen Experiment<br />

der Evolution«. Diese habe sich nicht<br />

geradlinig von den Seetieren zu den Menschen<br />

vollzogen, sondern sei eigenständige<br />

Wege gegangen, welche die unterschiedli­<br />

chen Meerestiere – man schätzt sie auf nahezu<br />

33.000 Arten – an ihr Element anpassten<br />

und perfektionierten. Das macht es auch so<br />

schwierig nachzuvollziehen, wie Leben unter<br />

Wasser funktioniert. Es folgt einfach einer<br />

anderen Logik als jenes der Säugetiere.<br />

WER IST HIER DAS MONSTER?<br />

Das gilt auch für Haie, die keineswegs die<br />

gefräßigen Monster sind, als die sie oft<br />

noch gelten. Die bedrohten Raubfische seien,<br />

sagt der deutsche Haiforscher Thomas<br />

Peschak, »viel klüger als Katzen«. Bei<br />

Experimenten mit Futterautomaten würden<br />

sie etwa viel schneller herausfinden, welche<br />

Tasten sie mit ihrer Schnauze drücken<br />

müssen, um einen Happen zu erhaschen.<br />

Einen Sonderplatz nehmen die Meeressäuger<br />

Delfine ein. Ihr ausgeprägtes<br />

Kommunikationsverhalten wird bereits seit<br />

geraumer Zeit erkundet. Manche Forscher<br />

sind überzeugt, dass es sich bei ihrem Klicken,<br />

Pfeifen und Schnattern um eine eigene<br />

Sprache handeln müsse. Die lernfähigen<br />

Tiere suchen auch die Nähe zu Menschen –<br />

und dienen zur Therapie. Im israelischen<br />

Eilat werden Delfine in einer wissenschaftlichen<br />

Station etwa auch eingesetzt, um Kontakt<br />

zu autistischen Kindern aufzunehmen.<br />

Da kann man beobachten, wie am frühen<br />

Morgen ein kleiner Junge am Strand sitzt<br />

und auf das Wasser hinausblickt. Plötzlich<br />

taucht aus den Fluten »sein« Delfin auf –<br />

immer dasselbe Tier, das sich aufrichtet und<br />

dem Buben zuschnattert. Und der streckt<br />

seine Finger Richtung Meer und tut, wozu<br />

ihn Menschen niemals bewegen können –<br />

er beginnt, seinem tierischen Besucher<br />

Kosenamen zuzurufen.<br />

<<br />

jun <strong>2021</strong><br />

falstaff<br />

143

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!